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Die Kunst des gothischen Styles.
mächtige Aufblühen städtischer Gemeinwesen, von welchen viele der be-
deutendsten Unternehmungen dieser Epoche ausgehen. Bleibt bei dieser
Richtung eine feinere Belebung des architektonischen Organismus minder
beachtet, so entfaltet dagegen die deutsche Gothik an den wundersamen
Unternehmungen der schlank aufstrebenden, aus einem Netze durchbroche-
ner Maasswerke gewobenen luftigen Thurmpyramiden eine Kühnheit und
Consequenz des Systems, die zu ganz neuen Combinationen und Wirkun-
gen fuhrt, und in keinem anderen Lande ihres Gleichen findet.
In den niederrheinischen Landen ist es vor Allem die Fortsetzung.
der Bauten am Dom zu Köln, 1 welche ein Bild der grossartigsten lmd
consequentesten Durchführung des gothischen Systems gewähren, Das
Langhaus mit seiner klaren fünfschifügen Anlage, seiner feinen, lebens-
vollen Gliederung, der beziehungsreichen Wechselwirkung aller Theile
wurde sogleich nach der im J. 1322 geschehenen Vollendung des Chores
wahrscheinlich noch durch Meister Johann in Angriff genommen. Die
letzte Reminiscenz einer strengeren Formbehandlung weicht hier durch-
weg dem reich und elastisch bewegten Schwung einer frei vollendeten
Kunst. In organischer Verbindung mit diesem mächtigen Langhausbau
steht die Fagade mit ihren beiden gewaltigen Thürmen, allerdings in der
Ausführung unterbrochen, aber durch die alten wie durch ein Wunder
erhaltenen Baurisse hinlänglich ergänzt, um in ihnen den glänzendsten
Ausdruck des bis zur äussersten Consequenz der Anlage und Ausbildung
durchgeführten Systems der nach oben luftiger und leichter aufsteigen--
den, sich unaufhaltsam verjüngenden Strebemassen zu erkennen. Der
Charakter der Formgebung, im Wesentlichen dem Princip des Lang-hau-
ses sich anschliessend, lässt doch gewisse Modificationen, gewisse freiere
dekorative Wendungen erkennen, die auf den Ausgang dieser Epoche
weisen. In kleineren Verhältnissen, aber in ansprechend klarer und
reiner Ausprägung findet sich dasselbe Princip schlank aufstrebender
Thurmpyramiden an dem "Hochkreuz" bei Godesberg vom Jahr 1333
durchgeführt. In den unteren Gebieten des Niederrheins sind so-
dann das Schiff der Stiftskirche zu Xanten (S. 40) und die etwa.
seit 1334 ausgeführte Capitelskirche zu Cleve als einfache, klar ent-
wickelte, unter dem Einfluss der Kölner Dombauhütte stehende Werke
zu erwähnen. Der späteren Zeit des Jahrhunderts gehört sodann das
ebenfalls in schlichteren Formen aufgeführte Schiff von St. Severin in
Köln, dessen von 1394-1411 errichteter Westthurm sogar statt des
Strebesystems die einfachere Flächengliederung der nordischen Bauweise
zeigt. In eleganten Verhältnissen mit hohen und breiten, reich ent-
wickelten Fenstern baut sich der seit 1353 dem alten Münster KarPs des
Grossen zu Aachen vorgelegte, schlanke, einschiffige, polygon geschlos-
sene Chor auf, dessen Formen ebenfalls die Einwirkung der Kölner Bau-
ten verrathen. Ein andrer Ohorbau dieser Zeit ist der von St. Florin
1 Denkmäler der Kunst,
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