Volltext: Handbuch der Kunstgeschichte (Bd. 2)

Art 
tektur. 
Die consequente Ausbildung, welche das System in der vorigen 
Epoche erfahren, steigert sich im Verlaufe des 14. Jahrhunderts zunächst 
zum Ausdruck höchster Freiheit, flüssigsten Lebens. Mächtige räumliche 
Wirkungen werden erstrebt, und manche neue Combinationen den alten 
hinzugefügt. Die Construction kennt keine Schwierigkeiten mehr, und 
die Kühnheit des Calcüls findet zumeist an den in dieser Zeit entstande- 
nen oder entworfenen Riesenbauten der hohen durchbrochenen Thurm- 
spitzen ein entsprechendes Ziel. Aber gerade in der äussersten Oonsequenz 
liegt zugleich ein Element schulmässiger Trockenheit, unter welchem der 
feine Hauch ächt künstlerischen Schaffens erlischt. Die meisterhaft aus- 
gebildete Technik führt zu einem bewussten Streben nach Effekt, welches 
sich sowohl in der Anlage und Oomposition des Ganzen, als in der 
schärferen Ausprägung des Einzelnen geltend macht. Die Gliederung an 
den freien Stützen, den Fenstern und ähnlichen Theilen wird mannigfal- 
tiger, reicher, individualisirter, das Ornament setzt sich theils aus künst- 
lich verschlungenen geometrischen Figuren zusammen, in deren Combi- 
nation bald ein Spielen mit eleganten, üppigen, selbst. willkürlichen Ele- 
menten Eingang gewinnt, theils bewegt es sich in Nachahmungen vege- 
tativer Formen, deren Zeichnung durch die Virtuosität des Meissels sich 
nicht selten schon zu einer, auf den Effekt hinarbeitenden Manier neigt. 
Bei der allgemeinen Verbreitung, welche die Gothik in dieser Epoche 
erfährt, bildet sich zugleich eine grössere Mannigfaltigkeit der Richtungen 
heraus, indem jede Lokalschule sich origineller aus sich selbst zu ent- 
wickeln und zu neuen Resultaten zu gelangen vermag. Die schärfste 
Ausprägung der nationalen Gruppen fällt daher in diese Epoche. Zu- 
gleich nehmen die einzelnen Länder in der gemeinsamen Baubewegung 
eine neue Stellung ein, und während in der vorigen Epoche Frankreich 
die erste Stellung gebührt, tritt Deutschland nunmehr dominirend in den 
Vordergrund. Hier erfahrt das System seine consequenteste Entfaltung, 
seine denkbar höchste Ausbildung, aber zugleich den damit verbundenen 
Uebergang in's starr Schematische. 
Deutschland. 
Die 8011011 in der vorigen Epoche sich herausbildende Mannigfaltig- 
keit der Richtungen, durch welche die deutsche Gothik sich auszeichnet, 
befestigt sich im Verlauf des 14. Jahrhunderts durch immer entschiede- 
nerg Ausprägung. Die reichere nordfranzösische Stylform tritt jedoch in 
dieser Epoche an Geltung hinter der eigenthümlich deutschen Hallenan- 
lage zurück, und es scheint somit eine nationale Reaction gegen die fremde 
Bauweise immer mehr 11m sich zu greifen. Es wird dadurch eine grössere 
Einfachheit und Uebersichtlichkeit der Anlage erzielt, die jedoch häufig 
mit einer grossartigen und weiträumigen Planentfaltung in Verbindung 
steht. Nicht ohne entscheidenden Einfluss auf diese Richtung ist das
	        
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