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Das alte Aegypten.
Die Werke der 19ten Dynastie, namentlich die von Ramses 11., sind
in Bezug auf Plan und äusseren Gehalt staunenswürdig, wie kaum etwas
Andres, das menschlicher Wille geschaffen; die reichlich ausgeprägten
Typen der eigenthümlich ägyptischen Darstellungsweise iigeben diesen
Werken ein höchst vielseitiges Interesse. Aber das Bedürfniss thunlichst
erreichbarer Vollendung ist bereits minder entschieden; die künstlerischen
Kräfte stumpfen sich bei der Ueberfülle des Darzustellenden ab; die
Reinheit der Linien verliert sich; Beispiele von entschieden roher Behand-
lung machen sich geltend. Das Museum von Berlin besitzt eine Kolossal-
statue Ramses II. aus Granit, deren schon äusserlich conventionelles Ge-
präge bei Vergleichung jenes älteren Fragments der Statue Sesurtesens I.
auffällig ist. Höchst riesig sind die Kolossalstatuen, welche die Faca-
den der beiden Felstempel von Abu Simbel (Ibsambul) in Nubien schmü-
cken. Die des grösseren Tempels sind vier sitzende Gestalten, sämmtlich
Ramses II. vorstellend, die über 60 Fuss hoch sind und sich aufgerichtet
bis zu 80 Fuss erheben würden. Die Köpfe zeigen hier, trotz der unge-
heuren Dimension im Ganzen und Einzelnen, eine entschieden individuelle
Bildung allerdings mit Glück durchgeführt. Die Statuen der Facade des
kleineren Tempels sind sechs stehende Gestalten, 35 Fuss hoch, denselben
König und seine Angehörigen darstellend. Hier ist die körperliche Be-
handlung, besonders die der Brustpartie, als eine nicht sehr erfreuliche
zu bezeichnen.
Der Felstempel von Gerf Hussen (Girscheh) hat im Innern Pfeiler
mit daran lehnenden Kolossalßguren, welche in einer barbarischen Schwer-
fälligkeit ausgeführt sind. Ebenso sind an den Vorbauten des Tempels
von Wadi Sebüa (Essabua) sehr schwere Kolossalstatuen enthalten; beides
ein deutliches Zeichen des eingetretenen Mangels an geeigneten künst-
lerischen Kräften, wenigstens für das Kunstfach der Statue grosser Di-
mension. Die Wandreliefs dieser Denkmäler haben wiederum dasselbe
frischere und im Inhalt der Darstellungen vielfach .anziehende Gepräge,
wie die WVandbilder andrer Denkmäler des genannten Königs.
Die ungünstige Wirkung, welche das Ueberbieten der künstlerischen
Kräfte hervorbringen musste, zeigt sich besonders deutlich an der Rohheit
der gleichzeitigen kleinen Privatdenkmäler (Grabpfeiler und dergl.), zu
deren Beschaffung kaum noch eine geeignete Hand zur Stelle gewesen
zu sein scheint, und an den Denkmälern der Nachfolger, deren Meister
aus der mit so viel geringerer Sorgfalt betriebenen Schule hervorgegangen
waren. Die Behandlung des Sculpturen an den grossen Denkmälern
Ramses III. bekundet schon einen entschiedenen Verfall der Kunst. Die
reiche bildnerisehe Ausstattung seines kolossalen Granitsarkophags im
Louvre zu Paris (der Deckel desselben in der Universität von Cambridge)
macht sogar bereits den Eindruck roh entworfener Skizzen.