Volltext: Handbuch der Kunstgeschichte (Bd. 1)

Bedingniss 
und 
Charakter. 
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eigne und selbständige Entfaltung bildender Kunst. Wenn einzelne Fälle 
einer minder strengen oder minder befangenen Auffassung zur Abweichung 
von der Regel, zum Schmuck der baulichen Anlage durch bildliche Dar- 
stellung führten, wenn hieraus beider einzelnen Sekte '(bei den Sehüten, 
aber auch erst in sehr später Zeit,) eine wiederum gültige Sitte sich 
bildete, so blieb die Ausnahme dem allgemeinen Gesetze gegenüber doch 
so untergeordnet, dass sie auf das Wesentliche der künstlerischen Rich- 
tung in keiner Weise einen Einfluss auszuüben vermochte. 
Die Kunst des Islam ist also in der Hauptsache nur Architektur. 
Die üppiger entfesselte Phantasie spricht sich in ihr zunächst in mannig- 
fach verschiedenartigen Bogenformen aus. Bei Raumößnungen, bei Ar- 
kadenstellungen genügt der einfach ruhige Halbkreisbogen nur noch in 
seltensten Fällen; die aufsteigend gebrochene Form des Spitzbogens, der 
kühn urnschwiugende Hufeisenbogen  Beides charakteristisch orienta- 
lische Typen, hier und dort schon früher theils in Anklängen, theils in 
bestimmt ausgesprochener Bildung hervortretend, zuletzt besonders etwa 
durch sassanidische Vermittelung dem Formenbedürfniss der jüngeren 
Zeit entgegengeführt,  werden fast durchgängig vorgezogen. Dann 
erhält der Spitzbogen einen hufeisenbogenartigen Ansatz; die ganze B0- 
genlinie setzt sich, in einer oder der andern Weise, aus kleineren Zacken- 
bögen zusammen; Bögen kreuzen sich mit Bögen; sie gelangen endlich 
zu seltsam geschweiften Formen, die sich unterwärts bogenartig spannen 
und nach oben hin, in widersprechender Gegenbewegung, in eine Spitze 
emporschwingen. Gewölbansätze werden, in phantastischer Combination, 
aus kleinen gewölbähnlichen Zellen zusammengesetzt, aus denen im Laufe 
der Zeit verwunderliehe Formen-Conglomerate erwachsen. Doch fehlt es 
bei alledem, seltne Ausnahmen abgerechnet, an den Elementen einer 
organisch gegliederten Bildung, an dem Ausdrucke und den Formen indi- 
vidueller Lebenskraft, welche die stützenden, die emporsteigcnden, die 
schwingenden, die. deckenden Theile erfüllt und aus ihrer Verbindung, 
ihrer gegenseitigen Bedingung ein in seinem inneren Gesetze beruhendes 
Ganzes schafft. Es ist ein Mangel, welcher als die naturgemässe Folge 
der Entfernung des künstlerischen Sinnes von der eigentlichen Individual- 
bildung betrachtet werden muss. Aber die unterdrückte Kraft schiesst 
sofort in andrer Richtung und in überwältigender Fülle hervor. Der 
Trieb zur Einzelgestaltung wird zur Ornamentbildung, deren reich 
zusammengesetzte Oompositionen sich mehr und mehr über das architek- 
tonische Werk ausbreiten. Sie stehen in nächstem Wechselverhältniss 
Zu jenen verschieden gestalteten Architekturformen; sie vereinigen sich. 
mit noch einem andern Elemente räumlicher Ausstattung, welches eben- 
falls, wenn auch Weniger der Form als dem Gedanken nach, einen Er- 
Satz für das mangelnde Bildwerk ausmacht. Dies ist der insßhriftlißhe 
Schmuck, welcher dem baulichen Monumente seine Weihe giebt, eine an 
L 
stalt und mit grässlichem Antlitz vor ihn treten, sich ihm als sein böses Werk 
kllndgeben und auf seinen Rücken steigen; so werde er, nach dem Worte dgs 
Pfüpheten, die entsetzensvolle Last fortan zu tragen haben. Vergl. H- Alt: dle 
Heiligenbilder, Seite 42. .
	        
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