Volltext: Handbuch der Kunstgeschichte (Bd. 1)

Zweite Periode. 
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hierin noch eine Verwandtschaft mit der formalen Allgemeinheit, welche 
den Bildungen der vorigen Epoche eigen war; doch mit dem sehr erheb- 
lichen Unterschiede, dass der äusserlich schematische Typus der letzteren 
gebrochen und ein Geistiges an seine Stelle getreten ist. Sie ist frei 
geworden; aber sie hat diese Freiheit nur erst für sich gewonnen. Bei 
der ausschliesslichen Rücksichtnahme auf organische Vollendung kommt 
der tiefereWechselbezug zu einem Andern, das Verhältniss gegenseitiger 
Stimmung, das einer Mitleidenschaft im inniger menschlichen Sinne noch 
nicht zur Entfaltung.  
Das künstlerische Gefühl, welches hienach in der eigentlich plasti- 
schen Kunst zum entscheidenden Ausdruck gelangt, bedingt gleichzeitig 
auch den Entwickelungsgrad für die Künste der Architektur und der 
Malerei. Die architektonische Gestaltung War in der vorigen Epoche ihrem 
Wesen nach festgestellt; sie war für die letztere das Entscheidende ge- 
wesen. Das Verhältniss zwischen Sculptur und Architektur ist auch jetzt 
noch ein völlig harmonisches; jenes Gattungsmässige der bildnerischen 
Darstellung, das geistig Typische, welches hiedurch geboten war, ent- 
spricht noch immer dem architektonischen Gesetze, ist sogar geeignet, 
mit demselben zu einerhöheren Einheit zu verschmelzen. Aber das voll- 
kommen Organische und Belebte Ader bildnerischen Darstellung wirkt zu- 
gleich auf das organische Gefüge und den Lebenshauch des architektoni- 
schen Gebildes zurück; auch dies wird freier, leichter, flüssiger; es nimmt 
unmittelbarer Theil an den Ergebnissen der plastischen Kunstbildung. In 
demselben Maasse jedoch, inwelchem die Sculptur dieser Epoche die 
feinere Durchbildung der Architektur fördert, hemmt ihre vorwiegende 
Richtung noch die selbständige Entfaltung der Malerei. Die letztere kann 
freilich auch mit ihren Mitteln ein Abbild jenes Gattungsmässigen, jener 
formalen Allgemeinheit geben:  ihr eigentliches Wesen entfaltet sich 
erst, wenn, in der naiven Erscheinung wie in den sittlichen Gründen der- 
selben, das Besondrc mit seinen Wechselbezügen und Ooniiicten hervor- 
tiritt. Die Kunst der Malerei hat in dieser Epoche noch eine unterge- 
ordnete Stellung; das Malerische im eigentlichen Sinne kommt überhaupt 
noch nicht in Betracht. 
Die Behandlung der Form, der architektonischen wie der der orga- 
nischen Natur, wird durch jenes Grundelement dcl" künstlerischen Richtung 
näher bestimmt. Das Schwere, Massenhafte, Ringende, das schematische 
Herbe und Starre, was in der vorigen Periode herrschte und noch ein 
Uebergewicht materieller Bedingnisse und ein noch erst äusserliches Ab- 
finden mit denselben erkennen liess, weicht jetzt durchaus einer frischen, 
straffen Elasticität. Alles hat den Ausdruck jener selbständigemßißh 
völlig bethätigenden Lebenskraft; und Alles zugleich ist fest in sich 89' 
gliedert, streng auf seinen eigensten Zweck zurückbezogen, fast als trügen 
diese Formen Scheu vor der Möglichkeit einer Berührung mit Fremdem, 
vor der Einwirkung, welche sich dadurch ergeben könnte. Es War der 
naturgemässe Entwickelungsgang ächtester Kunst, was zu solcher Behand- 
lung führte. Zugleich aber ist die letztere, wie dieser Entwickelungsgang 
Hand in Hand mit der nationalen Ausbildung gieng, der ebenso natur- 
gemässe Abdruck eines Volksthumes, welches, ob auch nur auf eine kurze
	        
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