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hellenische Kunst.
Die
auf, welche das nüchtern Oonstructionelle zum lebendigen Ausdruck archi-
tektonischer Kräfte umzubilden geeignet waren. Die selbständig sich ent-
faltende Bauweise der ionischen Stämme wurde hiedurch in ähnlichem
Sinne, wenn auch mittelbar, nicht minder gefördert. Die bildende Kunst
musste für das Bewusstsein des organischen Gefüges, für die Zurückfiih-
rung desselben auf feste Maasse, für eine zu aller Lebensäusserung be-
fähigende Elasticität der Structur vielfachen Gewinn ziehen. Dem dumpfen
Naturalismus einer primitiven Culturstufe, dem üppig phantastischen Wesen,
welches die Bildnerei des Orients hereingeführthatte, trat hiemit noth-
wendig die günstigste Gegenwirkung entgegen.
Wenn für den ägyptischen Einfluss auf die Architektur im Obigen
besondre monumentale Zeugnisse namhaft gemacht wurden, so scheint
für die bildende Kunst nicht ebenso Entscheidendes vorzuliegen. Gleich-
wohl fehlt es auch in diesem Betracht nicht an bestimmten Anknüpfungs-
punkten. S0 darf zunächst jener orientalisirenden altdorischen Vasen-
malerei eine andre Gattung dieser Technik, die nächst jüngere, welche
nach Inhalt der Darstellungen und Schrift als die altattische bezeichnet
wird, gegenübergestellt werden. Die Gefasse selbst haben schlankere
Formen, mit straffcm Profil; die Malereien sind schwarz (bei weiblichen
Gestalten Weiss)- auf rothem Grunde. Die ältesten Beispiele haben noch
das deutliche Gepräge eines gemischten Styles. Ornament und einzelne
phantastische Thiertigmen erinnern auch bei ihnen noch an orientalische
Einwirkung; ebenso eine gewisse Derbheit in der Zeichnung der mensch-
lichen Gestalten, die ihnen, in Hüften und Waden, etwas eigen Gedun-
senes giebt. Aber mehr und mehr macht sich eine straffe Bildung geltend,
in einer Art, welche die bestimmte Einwirkung eines andern, ausgeprägten
Stylgesetzes erkennen lässt und von einem etwa selbständig hervor-
brechenden Naturalismus durchaus fern ist. Es ist der allgemeine Typus
ägyptischer Form, der sich hierin, 0b auch nur in handwerklich fiüchtiger
Umbildung, ausspricht; während zugleich mancherlei Nebensächliches,
z. B. die leicht graziöse Bildung der Pferde, aufs Deutlichste an ägyptische
Vorbilder erinnert. Andre Einzelbeispiele derselben Umbildung werden
Weiter unten angeführt werden.
Innere
Entwiekelungen.
Inzwischen hatten sich, diesen Versuchen, Einwirkungen und Förder-
nissen zur Seite, auch die volksthümlichcn Zustände der hellenischen
Lande zur festen und bestimmten Form ausgeprägt, hatte das geistige
Leben des Volkes sich in selbständiger Eigenthümlichkeit entfaltet. Jene
schön begrenzte Weltanschauung, welche die Götter als Urbilder mensch-
lichen Seins fasste und den Menschen, im Vollgefühle seiner Kraft, diesen
Göttern nahe rückte, welche den dichterisch abgeklärten Mythus zum
Sinnbilde des Lebens nahm und das Persönliche, durch Darlegung der
höchsten Gesetze seiner Erscheinung, zum Symbol des Gemeingültigen
zu gestalten strebte, war ein Gemeingut des Volkes geworden. Zunächst
hatte sie sich in der epischen Poesie, die ihr Geschäft noch ohne dringen-