Viertes Kapitel.
Baukunst im neulnzehnten Jahrhundert.
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Bauschöpfungen der Vergangenheit schärfte. Sollefs Michaelskirche, ein
romanischer Langhausbau, Stillcris Markuskirche, eine Polygonanlage in
demselben Styl, und das Innere von Stracläs Petrikirche in norddeutsch-
gothischer Bauweise sind hier mit Auszeichnung zu nennen. Im Uebrigen
entfaltet die Berliner Schule besonders eine mannichfaltige und anziehende
Thätigkeit im Privatbau. Wir meinen nicht die modernen Miethshäuser,
die überall mehr oder minder schablonenmässig erbaut werden und dadurch
Stoff zu den wohlfeilen 'l'iraden über die Uniformität des modernen Kaser-
nenstyls gegeben haben. Als ob nicht die mittelalterlichen XVohnhäuser, wo
sie in dichter Reihenfolge sich an den Strassen hinziehen, ebenfalls dieselbe
Form in möglichster Gleichartigkeit wiederholten, nur dass in den hohen
Giebeln die Selbständigkeit der einzelnen sich kund gibt ! Wo dagegen heutzu-
tage wirkliche Wohnhäuser für besondere Familien errichtet werden, da zeigt
sich die ganze individuelle Mannichfaltigkeit in der Entwicklung des Grund-
plans und demgemäss der äusseren Gestaltung. Auch hier gab Sclzinkcl in
seinenVillenanlagen bei Potsdam den ersten Impuls zu einer freieren Auf-
fassung, in Folge deren sich für solche Anlagen zu Berlin eine Behandlung
herausgebildet hat, die zwischen der regelmässigeren Gestalt des städtischen
Wohnhauses und der ländlich-ungezwungenen Villa die Mitte hält.
Ausser Deutschland ist eine lebendige, strebsame Entfaltung der mo- Frankrcicl
dernen Architektur vorzüglich noch in Frankr eich zu finden. Sie wurde
zuerst durch Percier schon seit dem ersten Viertel unseres Jahrhunderts mit
grosser Begabung angebahnt, indem der kalte römische Pomp der ersten
Kaiserzeit einer geistvollen Wiederaufnahme der guten italienischen Renais-
sance wich. Dies ist seitdem der Grundcharakter der französischen Archi-
tektur, nur gelegentlich modificirt durch ein im hellenischen Sinn behandeltes
Detail. Bedeutend ist in dieser Richtung besonders Hittmy" aus Köln, dessen
Basilica S. Vincent de Paul ein interessantes Resultat solcher Bestrebungen
darstellt. S0 hat auch Duban in dem Palais des beaux-arts ein Werk von
edler Gesammtbaltung nach dem Vorgang der guten italienischen Renaissance
geschaffen. Dieser tonangebenden Richtung ist man auch in B elgien ge-
folgt, wo namentlich Roclandt im Justizpalast und der Universität zu Gent
imposante Werke desselben Btylcharakters hingestellt hat. Glänzende Ge-
legenheit; zur Anwendung einer üppig reichen decorativen Frührenaissance
gab in Paris sodann seit 1836 der Ausbau des Hotel de ville, und endlich
haben die grossartigen Bauunternehmungen des neuen Kaiserthums den
Architekten in umfassendster Weise Veranlassung zu schöpferischer Thätig-
keit gegeben. Erst aus neuerer Zeit datiren im Gegensatz zu diesen
Richtungen die Tendenzen auf Wiederbelebung der Gothik des 13. J ahrlr,
die durch talentvolle Männer wie Lassus, Viollet- le-Du-c u. A. getragen
werden und in der von dem Kölner Architekten Gau entworfenen Kirche
S. Clotilde zu Paris, so wie in der Restauration vieler mittelalterlicher Bau-
werke Gestalt gewonnen haben.
In E n gl an d verwendet man für palastartige Anlagen noch immer eine Enghuui
ziemlich nüchterne Barockarchitektur, für Landsitze, Kirchen, Colleges,
Schulhäuser u. s. w. eine theils eben so nüchterne, theils überladene Gothik.
Für letztere liefern die Parlamentshäuser von Barry ein grossartiges Bei-
spiel. Am meisten hat mit Wort und That der eifrige Architekt Pugivz zur
Aufnahme des gothischen Styls gewirkt.