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Sechstes Buch.
Richtung der dortigen Schule nach ihrer Heimath verpflanzt (Museum, Mili-
tärhospital u. a.) , zugleich aber ein Streben nach reicherer Ausbildung des
Details bei vorwiegender Anwendung des Backsteins und geschickter Ver-
bindung desselben mit dem Haustein bekundet. Sodann neigt auch die neue
Wien er S chule , der seit Kurzem eine Menge der grossartigsten Auf-
gaben (Arsenalbau, Altlerchenfelder Kirche, Votivkirche u. a.) dargeboten
worden sind , an welche sich demnächst noch umfangreichere anschliessen
werden, am meisten nach dieser Seite hin, obschon nicht Ohne deutliche
Keime, die auch hier eine fruchtbare Entfaltung selbständiger Elemente in
Aussicht stellen. In ungemein zierlicher Auffassung hat Eisenlolzr in
seinen badischen Bauten einen edlen romanischen Styl zu Grunde gelegt
und die Formen desselben auf geistvolle Weise mit den modernen Bedürf-
nissen in Uebereinstimmung zu bringen gewusst. Hübsch betrachtet für den
Kirchenbau die altchristliche Basilika und die antike Formbildung als Aus-
gangspunkt, und hat in eben so scharfsinniger als gründlicher Weise diese
Ansicht verfochten f). Er weiss mit bedeutendem Talent für das Construc-
tive die jedesmalige Aufgabe nach den gegebenen Verhältnissen zu lösen
und aus der Construction die Gliederung und Formbildung sich entwickeln
zu lassen, wie das Theater, die Kunstschule, die Orangerie zu Karlsruhe,
die Kirche zu Bulach, das Kurhaus zu Baden u. a. beweisen.
Gothiker. Eine besondere Stellung nehmen die modernen Gothiker ein. Sie schei-
den sich in verschiedene Gruppen, die noch nicht darüber einig sind, 0b sie
den strengen Styl des 13. Jahrh. (nach dem Vorgange der französischen
Archäologen von heute), oder den frei entwickelten des 14., oder endlich
den willkürlicheren, aber beweglicheren der Spätzeit proclamiren sollen.
Nur darüber sind sie einig, dass sie den gothischen Styl als das valleinselig-
machenden Princip der modernen Architektur betrachten. Es ist wahr, dass
manche Baumeister dieser Richtung mit Geschick in das Verständniss der
gothischen Formen eingedrungen scheinen: die grossartigen Vollendungs-
bauten des Kölner Doms unter ZwirnerCs Leitung geben hier die treff-
lichste Schule. Uns aber will es bedünken, als 0b der gothische Styl weder,
wie Jene meinen, der natürlichste, noch der nationalste, noch der für unser
Klima und unsere Verhältnisse passendsteßei. Bei der Schilderung seines
Systems ist darüber ausführlicher geredet worden.
Weiß verwen- Ein grosser Vortheil wird aber auch aus diesen Bestrebungen dem
lebenskräftigen Ringen der modernen Architektur zufliessen. Es wird durch
Srylß- sie ein bestimmter Kreis des historischen Materials für die werkthätige
Kunstübung neu gewonnen. Unsere Zeit trägt einmal schwer an der unge-
heuren Last der Ueberlieferungen. Aber sie kann dieselben nicht schlecht-
weg abschütteln; sie muss sie durch die Erkenntniss überwinden und die
Resultate in sich aufzunehmen wissen. Recht erfreuliche Werke hat gerade
Berlin in letzter Zeit auf dem Gebiet des Kirchenbaues hervorgebracht,
und zwar durch freie, auf gründliches Studium gestützte Reproduction der
mittelalterlichen Style, mit Anschliessung an die heutigen Bedürfnisse und
das heimische Ziegelmatericl. Manch segensreiches Saamenkorn hat in die-
ser Hinsicht Wilhelm. Stier durch begeisterte Lehre ausgestreut, indem 61'
den Blick seiner Mitstrebenden für das Lebensfähige in den verschiedenen
k) H. IHZbsch: Die Architektur
und Tübingen 1847.
und ihr Verl
Aältniss zur heutigen Malerei u.
I
Sculptur.
Stuttgart