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Sechstes Buch.
der Vergangenheit die Gegenwart zu begreifen und ihre Anforderungen zur Gel-
tung zu bringen strebt. Die wissenschaftliche Bildung, tiefer und universeller
als je zuvor, beginnt nachhaltiger und wirksamer das Leben zu durchdringen.
Hegemonie Wir haben hier nur in kurzen Zügen diesen geistigen Umschwung
anzudeuten, um den Punkt zu gewinnen, an welchen die Betrachtung der
heutigen Architektur anzuknüpfen ist. J enem allgemeinen geistigen Wie-
deraufleben geht das speeiell künstlerische zur Seite. Auf architektonischem
wie auf literarischem Gebiet ist Deutschland hier der Bannerträger der
neuen Bewegung. In unserer Literatur repräsentiren YVinckelmann, Les-
sing, Herder; Goethe, Schiller das Erwachen jener geistvollen, auf tiefstes
Erfassen der griechischen Antike gerichteten modernen Gesinnung. Die
Vermählung von Faust und Helena ist ein sinniges Symbol von der Ver-
schmelzung modern-germanischen Geistes mit antik-hellenischer Bildung.
xL-ne 11161,- Die Architektur, die im Dienst eines aus unklarer Quelle geschöpften,
zuletzt unglaublich verwilderten Pr-incips allen Zusammenhang in sich und
mit dem Leben, dessen Ausdruck sie sein sollte, verloren hatte, folgte dem
allgemeinen geistigen Zuge. In der Anschauung, im treuen Studium der
neu entdeckten Werke aus griechischer Blüthezeit fand sie ihre Läuterung
und YVidergeburt. Seit Stuart und Revelt begann ein eifriges, begeistertes
Messen und Zeichnen der antiken Reste, und die wissenschaftliche For-
schung war nun im Stande, die Geschichte der griechischen Baukunst in
ihren wesentlichsten Umrissen zu entwerfen.
Scliixrkol. Diese theoretisch-archäologischen Resultate in's wirkliche Leben ein-
geführt, ihnen Körper und Seele gegeben zu haben, ist das unsterbliche
Verdienst Sclzivzkells- (1781 _1841). Er erfüllte die entartete Architektur
zuerst wieder mit dem reinen, keuschen Hauch antik-hellenischer Werke;
er lehrte sie, die nach bacchantischem Taumeln erschöpft einherschwankte,
, den elastischen, edel gemessenen Schritt griechischer Schönheit. Seine
Säulenhalle des (alten) Berliner Museums, summt dem herrlichen Kuppel-
saale, seine in dorischem Styl errichtete Hauptwache , sein genial con-
cipirtes Schauspielhaus zu Berlin , endlich aber in grossartigster und
vollendetster Weise die leider unausgeführt gebliebenen Pläne zum Schloss
Orianda in der Krimm sind köstliche Zeugnisse von der Frische und dem
feinen Geiste, mit welchem er die Antike wiederzugeben, von der hohen
schöpferischen Freiheit, mit der er die griechische Formenwelt für die
verschiedensten Bedürfnisse des modernen Lebens zu verwenden wusste.
fWie reich der Ideenkreis des Meisters war, wie selbständig er die ver-
schiedenartigsten Aufgaben von der niedrigsten bis zur höchsten zu lösen
wusste, "beweist die Menge seiner Entwürfe, die nur zum Theil ausgeführt
wurden. So entschieden war er jedoch von der Ansicht durchdrungen,
welche die Antike als die Basis für die Neugestaltung der Architektur be-
trachtete, dass er selbst die gothischen Formen in verwandten Sinne um-
zugestalten suchte, ein Versuch , der an dem diametral entgegengesetzten
Charakter dieses Styles scheitern musste. In eigenthümlich neuer und be-
deutsamer Weise zeichnete er dagegen in seiner Bau akad e mie der Archi-
tektur neue Bahnen vor, indem er von einer bewundernswürdigen Ausbil-
dung des für unseren Norden entsprechendsten Materials, des B a ck s teins,
ausging, dem auch das System der Construction in consequenter Weise
sich anschloss.