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Sechstes Buch
Ein ähnliches nicht minder hervorragendes Werk ist die Kirche S. Gene-
vieve (Pantheon) zu Paris, von Soufßot (1713-1781) errichtet. Die
Kuppel erhebt sich hier als Centralpunkt einer ausgedehnten, in Form eines
griechischen Kreuzes ausgeführten Anlage. Säulenreihen trennen von den
Hauptschilfen niedrigere Seitenschiffe. Der Durchmesser der in drei massi-
ven Wölbungen construirten Kuppel hat (35 Fuss, die Gesammthöhe mit
Einschluss der Laterne erreicht 340 Fuss. Der äussere Umriss ist minder
schlank und erhält durch einen selbständigen Säulenkranz des Tambours
eine lebendige Gliederung. Eine kolossale Säulenhalle mit reich geschmück-
tcm Giebelfeld bildet nach Art des Pantheons zu Rom die Vorhalle.
Zuletzt raffte sich die französische Architektur noch zu einer Schöpfung
auf, die unter dem Namen des Rococo verrufen ist, und sich freilich
mehr bei _der Decoration der Innenräume als am Aeusseren entfaltet hat.
Dies entspricht auch seinem Wesen. Er besteht nämlich in dem vollstän-
digen Loslösen der Decoration sowohl von dem baulichen Organismus, als
auch von der natürlichen Beschaffenheit des Materials. Alle Flächen wer-
den mit bunten, willkürlichen Ornamenten, mit Muscheln, Laubgewinden,
Fruchtschnüren, Blumenfestons überfüllt. Jede Linie gestaltet sich dabei
auf's Capriciöseste , in einem beständigen kokettirenden Vibriren, sich
Kräuseln , Verschlingen und Umbiegen : jede Schwingung scheint sich die
Aufgabe gestellt zu haben, immer den Weg zu nehmen , den der vernünf-
tige Sinn am wenigsten erwartet hat. Dem Rococo ist es übrigens ziemlich
gleichgültig, auf welchem baulichen Hintergrund er seine launischen Spiele
aufführt; daher verbindet er sich oft mit ausgezeichnet schönen Verhält-
nissen, die er dann mit seinen zwar widerspruchsvollen, aber lebenspru-
delnden, übermüthigen und virtuosenhaft vorgetragenen Schaumgebilden
überfluthet. Er ist recht-eigentlich der Repräsentant jenes frivolen, üppigen
Hoflebens, das von Frankreich aus die Sitten der vornehmen Stände ver-
giftete.
England hat von allen Ländern nicht blos im staatlichen und gesell-
schaftlichen Leben, sondern auch in der Architektur mit grösster Zähigkeit
an den mittelalterlichen Traditionen festgehalten. Gänzlich ist der gothische
Styl in seiner eigenthümlichen, etwas nüchtern schematischen Weise bis
auf den heutigen Tag dort niemals verdrängt worden. Charakteristisch ist
besonders, dass jene phantasievolle germanische Frührenaissance hier keine
Stätte gefunden hat. Erst mit dem 17. Jahrh. macht sich der italienische
Styl auf dem Insellande geltend und wird durch Inigo Jones , einen
eifrigen Palladianer (1572 1652) , ausgebreitet. Von ihm ist namentlich
der Palast zu Whitehall anzuführen. Der Stolz der modern-englischen
Architektur ist die von Uliriszfoplwr Wren von 1675 bis 1710 nach dem
grossen Brande der Stadt neu erbaute S. Paulskirche zu London
(Fig. 447). In mächtigen Dimensionen S. Paul mit 102,620 Quadratfuss
Flächeninhalt ist die drittgrösste Kirche der Christenheit erhebt sich die
Kirche, dem System von S. Peter zu Rom sich anschliessend, doch nach
dem Vorgang und Bedürfniss der englischen Kathedralen als Langhausbau
mit ausgedehntem Chor gestaltet. Die 100 Fuss weite Kuppel, deren Tam-
bour vom unteren Gesimskranz an sich verengert, und deren Spitze zu
360 Fuss Höhe aufsteigt, ist durch ihr mächtiges Profil und eine eigen-
thümlich sinnreiche Construction bemerkenswerth.