Erstes Kapitel.
Allgemeine Charakteristik.
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Anwendbarkeit, in Vielseitigkeit und Mannichfaltigkeit. Der gothische Styl
hatte auf Kosten des Zweckmässigen seine eigensinnige Schönheit ausge-
bildet und auf die höchste ideale Stufe gesteigert. Die Renaissance ging
von den vielseitigsten Bedürfnissen des wirklichen Lebens aus und wusste
für dieselben mit glänzender Begabung jedesmal eine originelle , zweckent-
sprechende künstlerische Lösung zu finden. Ihre wichtigste positive Eigen-
schaft ist das Gefühl für Räumlichkeit, für malerische Gruppirung, klare
Gliederung, angemessene Belebung der Massen. Selbst ihre bisweilen nüch-
ternen, später schwülstig überladenen Detailbildungen vergisst man meist
über dem grossen Eindruck, den die schönen Verhältnisse, das mächtige
individuelle Leben, das aus dieser Architektur hervorquillt, auf das Auge
machen. Hatte der gothische Styl den Rhythmus der Bewegung
ausgebildet, so ist hier nach Kuglefs treffendem Ausdruck nein Rhyth-
mus der Massen durchgeführt, eine neue Schönheit der Verhältnisse
gewonnen, welche jener Styl schon um seines Princips willen nicht in dieser
Weise gekannt hatten Was aber die Decoration der Renaissance betrifft,
so muss man, selbst abgesehen von den spätgothischen Werken, bei denen
dieselbe auch in nichts weniger als organischer Weise sich dem Ganzen
anschliesst , bei einem Vergleich mit der Decoration der besten gothischen
Zeit jener unbedingt den Vorrang zugestehen. Denn in ihrer plastischen
lebensvollen Weise, bei der innigen Verbindung, welche sie wieder mit den
Schwesterkünsten eingeht, ist sie dem trockenen Schematismus der Gothik,
der die Thätigkeit der Sculptur und der Malerei verkümmert und statt in-
haltsvoller, bedeutungsreicher Gestaltungen ein leeres Spiel mit geometri-
schen Linien bietet, bei Weitem überlegen. In der Decoration, besonders
der Innenräume, hat die Renaissance einen Reichthum, eine Schönheit und
Harmonie entfaltet, wie keine Zeit vorher.
WVir bezeichneten den Hang nach freier Individualität als den Grund- n
zug der neuen Epoche. Auch in der Architektur gibt sich derselbe zu er-
kennen, und es ist mehr als eine äussere Zufälligkeit, dass sich die Ge-
schichte der Renaissance mehr durch die Geschichte der Baumeister als
der Bau werke bildet. Der Entwicklungsgang, die künstlerische Fähigkeit
des Einzelnen ist mehr als früher von entscheidendem Einfluss auf die
Gestaltung der Architektur. Früher kam in den Werken dieser Kunst das
allgemeine Gefühl der Zeiten. und der Völker vorherrschend zum Ausdruck:
jetzt geben sie mehr die Richtung, die innere Gesinnung des Einzelnen,
allerdings im Zusammenhang mit seiner Zeit, wieder. Damit hängt es denn
auch zusammen, dass der Kirchenbau sich von den zu allen anderen Zeiten
beachteten Bedingungen des Cultus, von der religiösen Grundlage überhaupt
befreit. Katholische und protestantische Kirchen erheben sich nach dem-
selben Schema, gemäss einer mehr abstracten , individuellen Begeisterung
für das, was man als nklassischa anerkannte, nicht nach ritua1en Bedüyf.
nissen und allgemeinen religiösen Anschauungen. Darum entfaltet sich die
freiere Beweglichkeit, die im Gebiet architektonischen Schaffens herrscht,
da am originellsten und in schöpferischer Kraft, wo der erfindenden Thätig-
keit des Individuums am meisten freies Spiel gelassen wird: im Pr o fan-
und ganz speciell im Privatbau. Paläste, Schlösser und Landhäuser
bilden die höchsten Leistungen dieses Styles, der seinen weltlichen Cha-
rakter nirgends, am wenigsten in seinen kirchlichen Gebäuden verleugnet.
ldividuelles
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