Erstes Kapitel.
Allgemeine Charakteristik.
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That der gothische Styl gewesen, verliert zunächst mit dem mittelalterlichen
Lebensprincip in der Kunst seinen Halt und versinkt in einseitigen Natura-
lismus und Entartung. Aber auf demreligiösen Gebiete erfasst gerade
Deutschland die Aufgabe der Zeit an der tiefsten Wurzel, und während
seine Luther und Melanchthon die alte Kirche aus ihren Angeln heben,
mag freilich die künstlerische Cultur für lange Zeit in den Hintergrund
treten. Der Protestantismus muss erst sein Princip aus dem Wust
erstarrter Ueberlieferung retten und es dann mit dem Schwert vertheidigen:
seine künstlerische Verklärung bleibt einer späteren Zeit vorbehalten.
In Italien rafft sich indess die alte kirchliche Autorität jenen anar- Dßrlnoäsylls
chischen Bewegungen gegenüber zu äusserster Kraftanstrengung auf, ge- Kaiiidiliusm
winnt den neuen Bekenntnissen manches bereits verlorene Terrain wieder
ab , verliert aber immer mehr an innerer Reinheit und Wahrheit. Es ent-
steht ein Katholizismus der forcirten Ueberreizung, der künstlichen Ver-
zückung, der in den italienischen und spanischen Malern des sechzehnten
und siebzehnten Jahrhunderts sich glänzend manifestirt. Die Religion ist
nun Parteisache, Gegenstand der Agitation, willkommener Ableiter der lei-
denschaftlichen Aufregung eines Inneren , das, des alten schlichten Glau-
bens verlustig, im Rausch der Ekstase Schutz sucht vor dem Nagen des
Zweifels. In dieser allgemeinen Gährung verliert auch die Sittlichkeit ihren
letzten Halt, und es entsteht ein Haschen nach Aeusserlichkeiten, nach
frivolem Geniessen, das in entfesselter Rücksichtslosigkeit seinem Ziele
nachjagt. Recht und Sitte schwinden, und an ihre Stelle tritt Macht und
Willkürliches Gelüsten.
Und doch, so viele bedenkliche Züge das Angesicht dieser Zeit ent- Positive
stellen, so leidenschaftliche Zuckungen darüber hinfahren, Klarheit und hlemenm
Ruhe verdrängend: man darf sich nimmer irre machen lassen an dem gros-
sen Gehalt, der sich dahinter birgt. So wenig die sittliche Anarchie der
ersten christlichen Jahrhunderte gegen das Christenthum zeugen kann , so
wenig wird das neue geistige Princip der freien Individualität durch die
gefährlichen Wehen, unter denen es in die Welt tritt, in seinem Werthe
geschmälert. Kein Wunder, dass es sich zuerst als zügellose Willkür offen-
barte , da es in einer Zeit gewaltsamer Auflösung, atomistischer Zersplit-
terung keine feste Grundlage gewinnen konnte und gleichsam in der Luft
schwebte. Aber die unerschöpfliche Fülle von Geist, Muth und Lebens-
kraft, die uns auf jedem Schritt begegnet, ist der Bewunderung werth,
selbst wo sie, ihres Zieles unkundig, auf Abwegen irrt. Im Gegensatz
gegen die früheren Zeiten, die mit dem positiv Gegebenen begannen und
dasselbe zur Verwirklichung zu bringen suchten , fängt diese neue Epoche
mit der-kritischen Auflösung des Gegebenen an, und ihre ungeheure Auf-
gabe ist, aus der Zersetzung zur Zusammensetzung, aus der Trennung zur
Einigung vorzuschreiten. Dass eine solche Aufgabe nur auf weitem, be-
Schwerlichem Wege, auf Kosten manchen Umweges und Irregehens erreicht
werden kann, ist nicht zu verwundern. Eben so wenig überrascht es, dass
einer Zeit, welche ausschliesslich kirchlich zu sein und selbst dem Welt-
lichen den Nimbus der Kirchlichkeit Zu geben sich bemühte, jetzt eine Zeit
folgt, die innerlich weltlich ist, und deren ganze angebliche Kirchlichkeit
ihren Schimmer von weltlichem Wesen borgt. In der Architektur spricht
sich dies am Schlagendsten aus. Kein Orden überlud seine Kirchen mit