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Sechstes Buch.
zuspitzt. Auf die kräftigste Bewegung musste wohl der kräftigste Rück-
schlag folgen. Selbst für die Umgestaltung des gothischen Styles war diese
veränderte Richtung von Einfluss. In den norddeutschen Bauten, wie in
denen Italiens, herrscht ein ganz anderes räumliches Gefühl, als in den
klassischen Leistungen dergothischen Frühzeit. Die einseitige Höhen-
richtung wurde verlassen; man ging mehr in die Breite und dehnte sich
mit Behagen auf der Erde aus. Wir erkennen auch darin deutlich den rea-
listischen Zug der Zeit.
Nßqß geistige Wie in der Kunst, so hatten im ganzen äusseren Leben die mittel-
Rwhiimg" elterlichen Gedanken sich erschöpft. Neues vermochten sie nicht mehr her-
vorzubringen. Die letzten Gestaltungen des gothischen Styls tragen jenes
Gepräge innerer Auflösung und Principlosigkeit an sich, welches in Staat
und Kirche mit Macht aller Orten hervorbricht. Eine tiefe Gährung hat
sich der Geister bemächtigt; ein gewaltiger Drang nach YVissen und Er-
kenntniss erfüllt sie. Aeussere Ereignisse, wie die Einnahme von Constan-
tinopel durch die Türken (1453) , in Folge deren eine grosse Anzahl grie-
chischer Flüchtlinge die Kunde antik-hellenischer Literatur im Abendlande,
zunächst in Italien, mehr und mehr ausbreitet, kommen diesem inneren
Drange zu Statten. Ein gelehrtes Studium von einer Tiefe und einem Um-
fang, wie keine Zeit vorher sie gekannt hatte, bahnt einer neuen Wissen-
schaftlichkeit den Weg und gibt Ersatz für die Tradition, auf der in alter
N aivetät zu fussen man verlernt hat. An die Stelle des Glaubens tritt der
Durst nach Wissen, an die Stelle der allgemeinen Autorität das nach per-
sönlicher Freiheit ringende Individuum. Der Geist der Forschung dringt
selbst in das Heiligthum der Kirche, ringt wie einst der Erzvater mit dem
Göttlichen und erklärt sich der überlieferten Satzungen ledig.
Swatliche Auf politischem Gebiet kommt die neue , das Recht des Individuums
Umgcstan""g'proclamirende Richtung zunächst dem Absolutismus Einzelner zu Gute.
Das souveraine Fürstenthum erhebt sich auf den Trümmern der längst durch
innere Parteiungen zerrütteten bürgerlich freien Verfassungen, und im
Ringen nach Herrschaft und Besitz entbrennen langwierige Kriege, in deren
Verlauf und Gefolge die erschöpfte Welt eine völlig veränderte Physiognomie
bekommt.
Italien und Doch scheiden sich in dieser Epoche Italien und der Norden in ganz
d" Nmdem besonderer Weise. Zuerst tauchen die reformatorischen Gedanken im Süden
auf, und recht eigentlich im Schooss der Kirche bricht die wildeste Auf-
lösung hervor. Italien hatte im Beginn des Mittelalters seine roheste Zeit
gehabt und war damals hinter den nordischen Ländern zurückgeblieben.
Seitdem über hatte es in jeder Bildung so bedeutende Fortschritte gemacht,
dass es den Norden zu überflügeln beginnt. In der goldenen Epoche der
neueren Zeit, etwa von 1450 bis 1550, feiern die Wissenschaften, Poesie
und bildenden Künste hier ihre glorreichste Entfaltung. Dagegen werden
die kirchlich-reformatorischen Bestrebungen mit Gewalt erstickt, während
jene anderen nicht minder gewaltigen Reformatoren, Lionardo da Vinci,
Raphael, Michel Angele, Titian, Correggio, von der kirchlichen Autorität
selbst sich gehegt sehen. Italien, das Land der heidnischen Sympathien,
der antiken Ueberlieferungen, begann am frischesten aufzuleben, als die
mittelalterlichen Anschauungen vor dem Geist der neuen Zeit zusammen-
brachen. Der germanische Norden dagegen, dessen höchste künstlerische