Erstes Kapitel.
Indische Baukunst.
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Verbindung von Nebenbauten mit dem Haupttempel, die als Kapellen, V01;
hallen, Wasserbassins auf mancherlei besondere Eigenthümlichkeiten des
Oultus hinweisen. Diese Grunderfordernisse werden von den brahmanischen
Denkmälern in bunt wechselnder Art erfüllt, und nur der buddhistische
Tempel gab ihnen eine consequentere, angemessenere Lösung. Bemerkens-
werth erscheint dabei die Aehnlichkeit, welche die meisten dieser Bauten
mit der Anlage christlicher Kirchen bieten, ja die Uebereinstimmung der
buddhistischen Tempel mit der altchristlichen Basilika. Da, wie kaum be-
merkt Zu werden braucht, an ein Hinüber- oder Herübertragen nicht zu
denken ist, so zeigt sich hier recht augenfällig, wie in beiden Religionen
ähnliche Bedürfnisse des Cultus ähnliche Anlage und Raumeintheilung mit
sich brachten. Beide forderten einen WVallfahrtstempel; in ihm ein Aller-
heiligstes , welches das Bild der Gottheit umschloss; ferner geräumige
Hallen , Welche das zur Verehrung herbeieilende Volk fasste; endlich eine
Anordnung derselben, die den Eintretenden nach dem Zielpunkte des Cultus
hinleitete.
So verständig diese Gesammtanlage war, so phantastisch ist die Art, Phantastik.
wie sie von den Indern ausgeführt wurde. Schon der seltsame Gedanke,
mit dem Tempel sich in den Granitkern der Erde hineinzuwühlen , spricht
dafür. Wenn der Mensch mit dem Bauwerke, durch das er sich als frei
Organisirendes Wesen den Naturgebilden gegenüber stellt, sich in den Bann
der Naturzufälligkeit hineinbegibt, so erkennt man daraus deutlich, wie
unauflöslieh die Fesseln derselben seinen Geist umstricken. Hier musste
die Launenhaftigkeit der Bergformation, die unsymmetrische Gestaltung mit
all ihren Seltsamkeiten sO bedingend eingreifen, dass an eine organische
Consequenz der ganzen Anlage nicht zu denken war. Unter diesem Banne
nahmen selbst die Glieder, an denen am ersten das statische Gesetz eine
organische Bildung hatte hervorrufen müssen, wie wir gesehen haben, eine
phantastische Form an. Endlich musste in der Behandlung des Einzelnen
jener wilde Taumel durch alle erdenklichen Linien, jenes unzählige Wieder-
holen gewisser Thiergestalten sich kund geben , welches überall den Blick
verwirrt. Der Geist, der den übergewaltigen Naturbedingungen zu entfliehen
suchte, fiel immer wieder in ihre Gewalt zurück; der Mensch kam eben,
wie Kapp bezeichnend sagt, nicht über die Natur hinaus, die, immer nur
sich selbst wiederholend, dem Geiste ein Gleiches anthut und ihn nicht
aus seiner Unfreiheit und seinem statarisehen Dasein zur Freiheit der die
N aturfesseln abschüttelnden Entwicklung losgibt.
EYYVägt man: dass Zwischen den jüngsten indischen Bauwerken lllldCharakteristik
den ältesten bekannten Denkmälern ein Zeitraum von beinahe zwei Jahr-
tausenden liegt, so wird dadurch die Zähigkeit, der Mangel an Entwicklung
in. der indischen Architektur in's hellste Licht gesetzt. In der That ist
Maasslosigkeit der Phantasie, grenzenlose YVillkür der Formbildung, gänz-
licher Mangel an organischer Durchführung der fast immer sich gleich blei-
bende Charakter jener Kunst. Auf einem solchen Gebiete kann von Ent-
wicklung in höherem Sinne des Wortes nicht die Rede sein. Eben so wenig
wie Indien eine Geschichte hat, besitzt es eine historische Entfaltung der
Architektur. Es ist bei jenem Volke sowohl in Leben, Sitte und Religion,
als auch in der Kunst nur von Zuständen die Rede, die mit geringen
Modiiieationen durch die Jahrtausende sich gleich geblieben sind.