Drittes Kapitel.
Gothischer Styl.
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Die äussere Xierbreitung des gothischcn Styles.
Bei der Aufzählung der einzelnen Denkmäler in den verschiedenen Reichßhuman
Ländern werden wir unter den wichtigeren nur die hervorragendsten nen- De"k"'äle""
nen, da die auf's Höchste gesteigerte massenhafte Production jener Epoche
uns zu solcher Beschränkung zwingt. Sodann ist im Voraus noch darauf
hinzuweisen , dass die meisten grösseren gothischen Kirchen aus Bestand-
theilen der mannichfachsten Bauepochen zusammengesetzt sind, da man
nicht allein romanische Reste oft beibehielt, sondern auch bei den kolossal
angelegten Kathedralen oft Jahrhunderte lang zu bauen hatte , so dass sich
die verschiedenen Wandlungen des Styles manchmal an demselben Bau-
werke nachweisen lassen.
Frankreich
und
den
Niederlanden.
Dass der gothische Styl im nordöstlichen Frankreich, dem alten
Franzien, ja genauer gesagt in der Schule von Paris, zuerst entstanden ist
und von dort sich nach allen Seiten weiter verbreitet hat, wurde bereits
bemerkt. Die nördliche Hälfte Frankreichs blieb auch in der Folge der
Sitz dieses Styles; je weiter nach Süden, desto lauer verhielt man sich in
Aufnahme desselben, da die altheimische romanische Bauweise der Sinnes-
richtung jener Gegenden besser entsprach. Man unterscheidet nun in Frank-
reich wie in den übrigen Ländern drei Hauptepochen des gothischen Styles,
die man als primäre, secundäre und tertiäre bezeichnet hat. Die
erste würde das dreizehnte , die zweite das vierzehnte, die dritte das funf-
zehnte und den Anfang des sechzehnten Jahrhunderts ungefähr umfassen.
Bezeichnender sind jedoch für die drei Perioden die Ausdrücke: strenger,
fr eie r und au s ar te n d er (oder Flamboyant-) Styl.
Für die Charakteristik der gothischen Architektur in Frankreich i")
mögen im Allgemeinen dieGrundzüge gelten, die wir bei der Darstellung
des Systems bereits entwickelt haben. Nur ist festzuhalten, dass hier der
Styl nicht wie in anderen Ländern sofort in fertiger Form auftritt, sondern
dass Frankreich es war, welches den neuen Styl zu gestalten und in ver-
schiedenen Entwicklungsstadien allmählich auszuprägen hatte. Daher ist
unter allen gothischen Werken der Welt die Betrachtung der nordfranzösi-
sehen Monumente von höchstem Interesse, weil man hier schrittweise ver-
folgen kann, wie die neue Bauweise sich aus dem Schosse der romanischen
'l'radition losringt, zuerst noch eine Menge F ormgedanken jenes älteren
Styles beibehält und nur allmählich SICh mehr und mehr von denselben
befreit. Gerade dies Ringen und Streben nach einer neuen architektonischen
Schöpfung verleiht den in Frankreich S0 zahlreich vorhandenen Werken
jener ersten Epoche einen Hauch der Unmittelbarkeit, Frische und Jugend-
lichkeit, welcher gerade diese Werke vorzugsweise zum anziehenden Gegen-
Epochen.
Charakter.
Die Literatur derselben findetßich Fösstentheils in den oben S. 357 anveführten IIauptwerken,
unter denen Vinllßt le Duüa Dictiounaire besonders wichtige Aufschlüsse über cäe innere Entwicklungs-
geschichte, der französischen Gothik bietet. Dazu sind zu vergleichen: Whittingtorüs Historical survey
ßf the ecclesiastieal antiqumes "f Frifnce (London 1809) und ein Aufsatz in der Förstefschen Bauzeitung
vom J. 1843 von Fr. Jllcrtens: "Pans baugeschlchtlich im Mittelalter". Die erste nach Massgabe des
gegenwärtigen Standes der Forschung vollständige Darstellung des Entwicklungsgälhgeä des {ethischen
Styles in Frankreich hat in llChtVOll8l' und scharfsinniger Weise C. Schnaaxe im V. Bande seiner "Ge-
schichte der bildenden Künste" (Dilßsßldürf 1555) gegeben. Diese hat unserer Behandlung als Richt-
schnur gedient.