Drittes Kapitel.
Gothischer Styl.
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des Materials beruhende, in hohem Grade beschränkte Construction, die aber
ihr ruhiges Genügen eben so lebendig als klar in der Formensprache ihrer
Glieder kund gibt. Der gothische Dom ist ein complicirtes, aus scharf-
sinnigster Berechnung aufgebautes, die natürlichen Gesetze der Schwere in
ein künstliches System auflösendes Ganzes, dessenWesen sich in einer Fülle
weicher, feiner, mit leisesten Uebergängen aus einander hervorwachsender
Glieder ausdrückt. Dort ist der scharfe Gegensatz aufsteigender, stützender
und horizontaler, gestützter Glieder: hier ein ununterbrochenes Aufschiessen
verticaler Einzelheiten. Während daher die antike Architektur in ihrer
Strenge sich den vegetabilischen Formen fern hält, scheinen am gothischen
Bau die Glieder nach Art einer Pfianze aufzuschiessen und sich zu ver-
ästeln. Fassen wir dies Alles in ein Wort zusammen, so ist dem antiken
Tempel der Charakter strenger Objectivität und Männlichkeit eigen, wäh-
rend der gothische Dom als Ausdruck subjectiver Empfindung, zarter
Weiblichkeit sich darstellt.
Unsere Schilderung des gothischen Styls hatte vorzüglich die grosseii, Andere An-
reich entwickelten Kathedralen im Auge , an welchen sich die Architektur lagm
zumeist ausbildete. Dass die Gothik aber auch für kleinere Werke aller
Art gerecht war, braucht kaum bemerkt zu werden; nur freilich lässt sich
nicht leugnen, dass gerade dieser Styl durch einfachere Behandlung, durch
Beschränkung des Grundplanes und der Ausstattung viel von seinem Zauber
einbüsst. Die schlichteste romanische Kirche kann noch grossen Reiz ge-
währen, weil das Wesen jener Architektur auf Einfachheit beruht: eine
schlicht behandelte gothische Kirche verfällt dagegen fast immer der Nüch-
ternheit. Sodann ist festzuhalten, dass eine so grosse Mannichfaltigkeit der
Plananlagen, wie sie der romanische Styl darbot, in der Gothik nicht mehr
stattfindet. Es handelt sich hier vielmehr um ein Weniger oder Mehr, und
selbst die ungewöhnlicheren Grundrissformen der früheren Zeit werden jetzt
immer Seltener.
Dagegen brachte es die mit dem Wohlstande gesteigerte Baulust zllProfanbauten.
einer ungemein reichen, ja prachtvollen Ausbildung aller jener für profane
Zwecke, sei es der Allgemeinheit, sei es der Einzelnen dienenden Werke.
Kaufhäuser, Gildenhallen, Rathhäuser, Brunnen, ja selbst die Befestigungs-
maucrn mit ihren Thoren und Thürmen, zeugten von dem Selbstgefühl und
der Kunstliebe der Bürger. Es Wal" Vfieder emmal eine jener GIßIIZEPOChSII
der Architektur angebrochen, wo eine höhere künstlerische Ausbildung
selbst bei den Werken alltäglichen Nutzens und gemeiner Zweckmässigkeit
Bedürfniss war. Obwohl bei diesen Bauten durch Material, Landessitte,
örtliche Verhältnisse grosse Verschiedenheiten herbeigeführt wurden, so
treten die Grundzüge des gothischen Styls auch an ihnen deutlich hervor.
Die Portale zeigen sich meistens spitzbogig gewölbt, die Fenster zum Theil
eben so nach Analogie der Kirchenfenster, oft aber auch mit geradem Stein-
balken. Dagegen pflegt an ihnen eine Theilung durch aufsteigende Stein-
Pfosten , die dann wieder durch einen horizontalen Stab gekreuzt werden,
durchgeführt zu sein. Immer ist aber die Protilirung der Portale- und Fen-
sterwände mit den tief eingezogenen Kehlen und scharf vorspringenden
Gliedern bezeichnend. Auch die Gesimse, welche die Stockwerke abtheilen,
folgen der an den kirchlichen Gebäuden bereits erwähnten Form. Wichtig