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Fünftes Buch.
Dennoch dürfen wir uns nicht verhehlen, dass, wie L. Lange richtig be-
merkt, die Aufgabe der Architektur nicht darin besteht, Ideale zu realisiren,
sondern das Reale zu idealisiren. Das Erstere hat der gothische Styl ver-
sucht. Betrachten wir diese Wunderbauten, die mit tausend und abertau-
send feinen Spitzen, ohne welche dieser Styl der Nüchternheit anheimfällt,
der Vernichtung ihre Arme entgegenstrecken; die so kolossal gedacht sind,
dass sie beinah nie zur Vollendung gekommen, ja meistens in ihren älteren
Theilen schon zerstört sind, ehe sie noch die Vollendung erreicht haben;
die in ihren riesigen Strebepfeilermassen, wie in den oft mit den Gewölben
gar nicht innerlich verbundenen Strebebögen eine über die statischen Zwecke
weit hinausgehende Verschwendung von Material und Arbeit zeigen: die
endlich durch ein System von geistreicher Täuschung die Functionen der
Glieder theils verbergen, theils ungehörig und wiederum verwirrend dem
Auge entgegen drängen: so wird man gestehen müssen, dass Wahrheit,
Natur, Zweckmässigkeit durch diese Architektur empfindlich verletzt wer-
den, und däSS der Imnßllische Styl in grösserer Klarheit, in einer bei höch-
stem Reichthum der Ausstattung doch überwiegenden Einfachheit den For-
derungen des Bedürfnisses leichter, angemessener und gediegener genügt.
Geschichtliche Stellt man sich aber auf einen höheren Standpunkt und beschaut diese
würdig"? Riesendome mit den Augen des Historikers , so wird man die Opposition
des Verstandes bald verstummen sehen und zur lebhaftesten Bewunderung
sich hingerissen fühlen. Von der Höhe dieses Gesichtspunktes erscheint
der gothische Dom als die höchste Verkörperung des christlich-mittelalter-
lichen Geistes. Es ist, als 0b alle Kräfte jener wunderbaren Zeit sich in
ihm vereinigt hätten, in einer der glänzendsten Kunstschöpfungen aller
Zeiten sich zu offenbaren. In keiner anderen Epoche der Geschichte ist der
ganze Inhalt einer Zeit so ausschliesslich in den Werken einer einzigen
Kunst ausgestrahlt worden, hat diese eine Kunst alle gestaltende Kraft so
völlig absorbirt, wie hier. Deshalb finden wir den höchsten Freiheitsdrang,
die geniale Kraft zur Individualisirung, die erdvergessene religiöse Begei-
sterung, die selbst die Gesetze der Natur spiritualistisch umzubeugen sucht,
im gothischen Dom auf's Grossartigste verkörpert.
Der svtbisßhe Von diesem Prinkte aus haben wir, um das Wesen der gothischen
Architektur völlig zu verstehen, einen vergleichenden Blick auf den griechi-
Tempel- sehen Tempel zu werfen. Schroffere Gegensätze lassen sich nicht ersinnen.
Der griechische Tempel, breit auf der Erde gelagert und massig aufstre-
belld, mit sanft ansteigendem Dache schliessend, wie spricht er ruhiges,
irdiSChf-BS Genügen so rein und klar aus! Der gothische Dom, auf engem
Grundplan schmal sich hinzeichnend, des rastlosen, himmelanstrebenden
Aufschiessens kein Ende wissend, wie athmet er den sehnsüchtig nach dem
Jenseits ringenden Geist des Mittelalters! Jener tritt in plastischer
Geschlossenheit als einheitliches Ganzes vor uns hin, im Inneren-minder
bedeutend, Seine ganze Schönheit am Aeusseren entfaltend. Dieser, ein
malerisches Conglomerat von lauter Einzelarchitekturen, zeigt selbst
am glänzendsten Aeusseren einen innerlichen Charakter, der mit seinem
zerklüfteten, räthselhaften Strebesystem und mehr noch mit seinen Portalen
den fragenden Blick in's Innere hineinzieht, um dort mit einem neuen
Räthsel die Räthsel des Aeusseren zu beantworten. Der antike Tempel hat
eine einfache, schlichte Zusammensetzung, eine auf den natürlichen Kräften