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Fünües Buch.
vorderen Ecken sich bisweilen zu kleinen Thürmen ausbilden, erhielten
nun in der Regel ein Portal, und traten dadurch, so wie durch ihre
grössere Massenentfaltung, vorzüglich bedeutsam hervor. Dagegen musste
ein Hervorheben der Kreuzgestalt durch eine (Zentrale Thllrmanlage nun-
mehr unpassend erscheinen, denn sie hätte dieser Stelle eine zu sehr
überwiegende Geltung gegeben. Nur in gewissen Gegenden, namentlich
in England, hielt man an einem mächtigen Thurme auf der Durchschnei-
dung von Langhaus und Querschiff fest; bei manchen Kirchen beruht
jedoch diese Anlage auf der Benutzung und dem Ausbau romanischer
Theile. In der Regel gab man diesem Punkte nur einen untergeordneten
kleinen, auf dem Giebel sich erhebenden Thurm, den sogenannten Dach-
reiter. Dagegen wies man fortan den Thurmbau fast ausschliesslich der
Facade zu.
Je unruhiger die übrigen Theile des Aeusseren sich zeigten, desto
wichtiger erschien es, das Wesen des Baues an der Facade möglichst klar
und bedeutsam auszusprechen. Die Schönste Form ergab sich hier, wenn
man nach dem Vorgange der bedeutenderen romanischen Kirchen zwei
Thürme , den Seitenschiffen entsprechend, aufführte. Doch war bei den
übermässig gesteigerten Dimensionen diese Doppelanlage nur bei fünfschif-
figen Kirchen in ganzer Fülle zu entfalten, so dass je zwei Seitenschiffe
durch einen Thurm gedeckt wurden. Es kam hier nicht blos darauf an,
die aufsteigende Tendenz des ganzen Baues in höchster Instanz noch ein-
mal auszusprechen denn das hätte durch einen einzelnen Thurm noch
bestimmter geschehen können sondern es musste dem hochragenden
Mittelbau durch zwei mächtige Flankirungen ein Rahmen, den unselb-
ständigen Seitenschiffen ein Abschluss geschaffen werden. Auch hier blieb
man dem Grundgesetz des gothischen Styles treu, indem man die Thürme
aus mächtigen Strebepfeilern und schwächeren Fülhnauern aufwachsen
liess. Dadurch ergaben sich von selbst drei Stellen für Eingänge, die man
an den grossartigsten Kathedralen auch wirklich durch drei Portale aus-
füllte. (Diese Disposition zeigt die unter Fig. 326 beigegebene Abbildung
der Facade des Doms zu Auxerre , obgleich der nördliche Thurm nur bis
zum Anfang der Spitze , der südliche nur in den unteren Geschossen zur
Ausführung gekommen ist.) Manchmal freilich ist nur ein mittleres ange-
ordnet. An diesen Portalen galt es, den Reichthum des Styls in höchster
Concentration zu zeigen. Man ging auch hierbei von der romanischen Por-
talbildung aus, indem man die Wandung nach innen in schräger Richtung
Sich verengen liess. Allein nicht wie dort aus Säulen und "Mauerecken be-
stand diese Abschrägung: sie wurde vielmehr aus feinen vorspringenden
Stäben, welche bald die birnenförmige Schwingung der Gewölbrippen an-
nahmen, zwischen tiefen Hohlkehlen gebildet. In 'die Hohlkehlen stellte
man auf kurzen Säulchen Statuen von Heiligen, überdeckt von reichen
Baldacrhinen. Wegen ihrer grossen Breite theilte man die Hauptporfale
durch einen mittleren Pfosten, vor welchem man die Statue eines bevor-
zugten Heiligen anzubringen liebte. Die feinen Laubkapitäle, welQhe in
späterer Zeit ganz beseitigt wurden, unterbrachen nur auf einen Augenblick
die verticale Gliederung, die sich weiter in spitzbogiger Schwingung fort-
setzt und das Portal abschliesst. Hier werden die Hohlkehlen ganz mit
kleinen Statuen oder Gruppen gefüllt, welche auf Consolen stehen, die für