Drittes Kapitel.
Gothischer Styl.
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Hälfte des 14. Jahrh. an, drang auch in das Masswerk ein unruhiges Stre-
ben nach Weniger constructiven, als spielend decorativen, bunt verschlun-
genen Formen. Unter diesen ist eine der am weitesten verbreiteten die so-
genannte Fischblase, ein flammenförmiger, rundlich geschwungener
Pass , der bereits die Gesetze geometrischer Bildung aufgelöst zeigt. Fig.
315 gibt ein Beispiel von einem mit solchen Fischblasen brillant verzierten
Fenster, Fig. 316 ein anderes, minder glücklich componirtes. Bei beiden
Formen macht sich schon darin ein Abweichen von der Strenge gothischer
Bildungsweise bemerklich, dass hier die verticale Gruppenbildung in der
unteren Bogenreihe schon ein Ende erreicht, und die obere Hauptabtheilung
mehr nach einem centralen Gesetz entwickelt ist, Worin sich gewissermassen
eine wenngleich stark modiiicirte Rückkehr zu der Gestaltungsweise
der Radfenster ankündigt.
Die Fenster waren ganz aus farbigen Glasstücken zusammengesetzt, Glasgcmiildc.
welche theils zu ornamentistischen bunten Mustern, theils zu figürlichen
Darstellungen sich verbanden. Diese Glasgemälde, die auch der romanische
Styl schon kannte , stellen grosse Teppiche dar , die dem kalten , scharfen
Tageslichte den Eingang wehrten und das ganze Innere mit einem farbigen
Licht übergossen. Kleine, mit starkem Blei eingefasste Scheiben bildeten
mosaikartig die Zeichnung , die immer in einer gewissen typischen Allge-
meinheit gehalten war, wie sie für den Ort sich schickte.
Wir haben nun die wesentlichen Eigenthümlichkeiten der Grund- Ausbildung
rissbildun g weiter zu verfolgen. Eine der entscheidendsten Neuerungen dciigsrezffd"
des gothischen Styls war die Umgestaltung der Altarnische. 1m romani-
schen Bau war diese nur äusserlich dem Chor vorgelegt, zugleich mit ihm
durch eine Krypta über den Boden erhöht. Die Gothik beseitigte die schon Choranlage.
in der letzten romanischen Epoche in Abnahme gekommene Krypta vol-
lends, liess den Chor sich blos mit einigen, etwa drei Stufen, über das
Langhaus erheben, und schloss ihn wie früher durch einen Lettner (eine
Steinerne Brüstung) von letzterem ab. Ferner bewirkte die consequente
Durchführung des Strebesystems, dass die Nislche einem polygonen Ab-
schluss weichen musste, der in ganzer Höhe mit den übrigen Hanpttheilen
aufstieg und von einem mehrtheiligen Rippengeivölbe überdeckt wurde.
Dieser Chorschluss ist mit seltenen Ausnahmen durch ungerade Seitenzahl
gebildet, entweder aus dem Achteck, dem Zwölfeck, auch wohl aus dem
Zehneck genommen. Durch diese Anordnung trat der Chor in innigen or-
ganischen Verband mit dem Langhause und gab demselbenzugleich einen
lebensvollen Abschluss. Um aber diesen Haupttheil reicher auszubilden,
führte man die jenseits des Querhauses verlängerten Seitenschiffe als Um-
gang um denselben herum und trennte diesen von dem Mittelraume durch
steinerne Schranken. Den Aufbau dieSer Theile gestaltete man genau nach
dem im Langhause herrschenden System, indem man den Qberbau auf
Bündelpfeilern ruhen liess und seine Wände mit 'I'riforien und darüber mit
Fenstern durchbrach. Noch reicher indess gestaltete sich bei den grossen Kapellen-
Kathedralen die Choranlage durch eine Reihe niedriger Kapellen, Welche kmm"
wie ein Kranz die Chorumgänge umziehen. Wir fanden eine ähnliche An-
Qrdnung schon in romanischen Bauten des mittleren Frankreich, nur ver-
fuhr auch hierin der gothische Styl umgestaltend, indem er aus den halb-
runden Nischen-Polygone Kapellen machte, die in lebendig organischer