Drittes Kapitel.
Gothischer Styl.
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So finden wir im gothischen Styl zwei mit einander innig verbundene Germanisches
Tendenzen verwirklicht: in der Plananlage die Befreiung von den im Ro-- Element
manismus noch vorhandenen Fesseln, im Aufbau die Auflösung und Durch-
brechung .der Massen, die Verwandlung des baulichen Körpers in eine
Summe zusammenwirkender Einzelglieder. In dieser Doppelrichtung spie-
gelt sich das Wesen des g erm an i s ch e n G ei s te s , als dessen höchste
architektonische Schöpfung der gothische Styl dasteht. S0 lange der Kir-
chenbau noch vorzugsweise vom Glerus ausging, behielt er den romanischen
Charakter bei, dasheisst, er wurzelte in der römischen Tradition. Natür-
lich , denn die Geistlichkeit, als Bewahrerin der klassischen Bildung und
Sprache, obendrein durch den hierarchischen Verband mit Rom zusammen-
hangend, musste auch in der Architektur mehr am Ueberlieferten haften.
Als aber allmählich auch an die Laien Kenntniss und Uebung jener Kunst
gelangt war, als das Selbstgefühl und die Macht der Städte dem Leben
einen bürgerlichen Zuschnitt gab, traten jene Reminiscenzen an eine fremdei
Kunst in den Hintergrund. Der germanische Geist fühlte sich in seiner
ganzen freien Kraft und unternahm es kühn, alle bisherigen Schöpfungen
an Grossartigkeit zu überbieten. Jetzt zum ersten Mal fühlte sich'die
nationale Phantasie völlig frei von den Schranken fremder Formgesetze;
zum ersten Mal vermochte sie, unterstützt von einer glänzend ausgebil-
deten Technik, ihre tiefsten Gedanken gleichsam in eigner Zunge auszu-
sprechen, und selbst der gesteigerte Weltverkehr kam ihrem künstlerischen
Ringen günstig zu Statten. Wie die reichen Handelsstädte die Waaren der
entlegensten Länder, die Producte verschiedener Zonen in ihren Hallen
aufgespeichert sahen, so bemächtigten ihre Baumeister sich auch mit freiem
Blick der anderwärts bereits gewonnenen Resultate. Und was sie so er-
rungen hatten, das bewahrten sie in ihren festen, zunftmässigen Verbin-
dungen, den Bauhütten, deren Ordnungen als gemeinsames Band die
YVerkleute der bedeutenderen Städte nah und fern umfassten, als heilig
gehaltenen Besitz. Darin beruht die Bedeutung der Bauhütten, über welche
man mit wichtigthuender Geheimnisskrämerei so viel mystisch Ungereimtes
verbreitet hat.
Die germanischen Völker aber waren die. Träger dieser grossartigen Aeussere
Bewegung. WVie schon der romanische Styl sich bei ihnen Strenger und Stellung.
gesetzmässiger gestaltete und consequenter entw1ckelte, als bei den süd-
lichen Nationen, so sind sie jetzt noch viel entschiedner die Vertreter des
neuen Styles, der im Süden nur oberflächliche Aufnahme und eine mehr
willkürliche Behandlung erfährt. Unter den Germanen aber sind es wieder
die beweglichen, erregbaren, Ilellßrungsbeglerigen Franzosen, und zwar die
stark germanisirten des nördlichen Frankreich, welche als die Schöpfer des"
gothischen Styles sich erwiesen haben. Schon in den sechziger Jahren des
12, Jahrh. tritt derselbe dort auf, verpflanzt sich schnell nach England,
dann auch nach Deutschland und dem übrigen Norden , während die Süd-
liehen Länder sich nur lau an der Bewegung betheiligen. Alle wesentlichen
Eigenschaften des germanischen Charakters, die Freiheitsliebe und das
Bedürfniss nach selbständig individueller Gestaltung, der Hang nach einem
einseitigen Spiritualismus, nach übertriebener Folgerichtigkeit, die Gewalt
einer erhabenen, wenn auch mitunter bizarren Phantasie, finden ihren Aus-
druck im gothischen Style. Kaum ist das System desselben geschaffen , so