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Fünftes Buch.
Grundgedan-
ken des Styls.
die Antike: aber er ist keineswegs etwa, wie einseitige Verehrer uns ein-
reden möchten, die nothwendige höchste Blüthe seinesVorgängerS- ES
liesse sich vielmehr recht wohl denken, dass das Mittelalter den romani-
schen Styl nicht zum gothischen System umgestaltet, dass es in jenem
sein volles Genügen gefunden hätte. Ist also der romanische Styl allerdings
die unerlässliche Voraussetzung des gothiSChEn, S0 ist er darum doch Iliäbt
minder für sich zum vollendetenkünstlerischen Abschluss gekommen, und
hat sein Ideal mindestens eben so vollständig verwirklicht, wie der gothische
Styl das seinige. Nur die cons truc tiven T.en denz en, welche der
Romanismus angeschlagen hatte, boten der neuen Bauweise einen unmittel-
baren Anknüpfungspunkt dar, und erfuhren von ihr eine consequente höhere
und freiere Lösung. In dieserBeziehung verhalten sich. die beiden mittel-
alterlichen Style -zu einander ungefähr wie die beiden antiken I-Iauptstyle.
Wie der dorische Triglyphenfries dem Grundplan des Tempels etwas Ge-
bundenes gab, wovon der ununterbrochen fortlaufende ionische Fries ihn
"befreite denn die Anordnung der Triglyphen beherrschte die Stellung
der Säulen zu einander, und dadurch die Grundform des ganzen Tempels
so war auch im romanischen Styl durch den Rundbogen die quadratische
oder annähernd quadratische Eintheilung der Planform vorgeschrieben, und
erst der Spitzbogen konnte eine freiere Anordnung des Grundrisses bewir-
ken. Diese Tendenz hatte, wie wir sahen, auch der Uebergangsstyl, und es
fehlt nicht an bedeutenden Bauwerken , an welchen dieselbe in consequen-
ter Weise durchgeführt ist. Der gothische Styl versuchte dieselbe Aufgabe
von einer anderen Seite, und dies ist, was er mit der Uebergangsarchitektur
gemein hat. Aber er verfolgte zugleich noch ein anderes Ideal, dessen Ver-
wirklichung ihn von allen früheren Bauweisen diametral unterscheidet. Er
löste nämlich die strenge Mauerumgürtung, welche bei allen früheren Stylen
den "Innenraum umschloss , und in deren künstlerischer Durchbildung sich
der Geist der verschiedenen Bausysteme offenbarte. Statt der Mauer ordnete
er eine Anzahl vereinzelter Pfeilermas-sen an, welche, nur durch dünne
Füllwände zum Theil verbunden, den Rahmen für die ungewöhnlich grossen
und weiten Fenster abgeben und dem Bau den Charakter eines ungeheuren
Glashauses verleihen. Dasselbe Gesetz macht Isich sodann auch bei der
Ueberdeckung der Räume geltend. Diese werden durch ein System kräf-
tiger Gewölbrippen geschlossen, zwischen welche als leichte Füllungen
dreieckige , dünn gemauerte Kappen eingespannt sind. AIn diesem Streben,
die Massen aufzulösen, die Einheit des Baues in eine Unzahl freier, selb-
ständiger Einzelglieder zu zerlegen , den Horizontalismus , diese unerläss-
liche Grundbedingung der Architektur, zu verleugnen und durch einen
extremen Verticalismus zuverdrängen, ja, den Gesetzen der Natur gleich-
sam zum Trotz, durch einen auf die äusserste Spitze getriebenen Calcül
ein wie durch ein Wunder aufschiessendes Bauwerk hervorzuzaubern, in
dieser ganzen, schrankenlosen Vergeistigung der Materie kommt der natur-
feindliche Spiritualismus des Mittelalters zur architektonischen Erscheinung,
In dieser Hinsicht ist der gothische Styl. unbedingt die Spitze der christlich-
mittelalterlichen Bauentwicklung. Er spricht die erdverachtende "Ueber-
weltlichkeit jener Epoche in glänzendster Consequenz, aber auch in schroff.
ster Einseitigkeit aus.