Erstes Kapitel.
Indische Baukunst.
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Fessel jede freiere Entfaltung des Volksgeistes hemmte, konnte der Sinn
für ein geschichtliches Dasein sich nicht regen. Trotz einer hochalterthünr-
liehen Cultur, trotz frühzeitiger Ausbildung und ausgedehnten GClJTRUChCS
der Buchstabenschrift kam dies merkavilrdige Volk weder zu eigentlich
historischen Aufzeichnungen, noch überhaupt in höherem Sinne zu einer
Geschichte. Ein traumhaft-phantastischcs Sagengewcbe umschlingt bis 111
späte Zeit das Dasein des Volkes, das unter dem Drucke seiner Priester
und Despoten willenlos fortvegctirte.
Erst mit dem Auftreten Buddhafs wird der indische Volksgeist zu einer Buddhismus.
höheren Bethatigung seiner Existenz ziuiigcweckt. Das wüst-phantastische
Religionssystem des Brahmaismus wird gestürzt, der ganze Götterhlmmcl
der Hindu zerstört, und eine neue Lehre auf der Grundlage einer re1n
menschlichen Moral aufgebaut. Nach dem Tode des Stifters (um 540 v. Chr.)
erfahrt zwar der Buddhismus manche Zusätze, Trübungen seiner ursprüng-
lichen Reinheit, Einflüsse der polytheistischen Vorstellungen des Brahmais-
nius: allein er gewinnt dafür an Ausdehnung, besonders seit der König
Aculizr (um 251) v. Chr.) Buddhzfs Lehre annimmt und mit Eifer ihre Ver-
breitung über die indischen Lande befördert. Aber auch auf die Gestaltung
des Brahmaismus übte der neue Glaube entscheidenden Einfluss, indem er
ihn zu einer schärferen, klareren Ausprägung seines Systemes zwang.
Mit dem Zeitpunkte, wo durch den König Acoka der Buddhismus zur
Herrschaft kam, beginnt auch, wie es scheint, die monumentale Bauthätig- [lauts-
keit Indiens. Die frühesten auf uns gekommenen Werke wenigstens (latiren
aus dieser Epoche. Doch lassen sie, im Verein mit den Nachrichten über
die anderweitigen baulichen Unternehmungen, welche jener König in's
Leben gerufen hat, eine schon entwickelte Technik und eine festbegründete
künstlerische Tradition voraussetzen. Auch wird von einem verfallenen
Tempel des Indra berichtet, der durch Acoka wieder hergestellt sei w) Fügen
wir dazu die Schilderungen der alten Epen Mahabharata und Ramayana,
welche von ausgedehnten Stiidteanlagen mit prachtvollen Palästen und Tem-
peln, von einem vollständigen Strassen- und Brückenbaue jener älteren
Zeit erzählen, so dürfen wir nicht zweifeln, dass in den noch vorhandenen
Denkmälern die Fortsetzung und Blüthc einer alterthümlichen Kunstthütig-
keit zu erkennen sei, die durch die neue Religionsform nur neue Ziele und
eine veränderte Richtung und Gestalt erhalten hat.
Während nun die gefeierten Residenzen der Brahmancnfürsten durch Verschiedene
die Zerstörungslust der späteren mohamedanischen Eroberer vom Erdboden
vertilgt worden sind, hat sich in allen 'l'heilen des ungeheuren indischen
Ländcrgebietes eine grossc Anzahl von Qhltbauten erhalten, die unter sich
eine grosse Mannichfaltigkeit zeigen. Zum Theil sind sie buddhistischen,
zum Theil brahmanischen Ursprungs, jene durch grössere Einfachheit und
Strenge, diese durch reiche Phantastik der Decoration kenntlich. Der
Buddhismus rief vornehmlich zweierlei Gebäudeanlagen hervor: die S t up afs
(nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch: Top e's) als heilige Reliquien-
behülter , und die Viharzfs, ausgedehnte Bauten für die Wohnungen der
Pricstelg Da es nun religiöse Satzung bei den buddhistischen Priestern und
Mönchen war, sich zu Gebet und frommen Betrachtungen oft in die Ein-
i) Lassen.
Indische Altcrthumskunde I1, 270.