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Fünftes Buch.
den Gehorsam gegen die Obrigkeit vorschreibt. Indem solchergestalt die
Grenzen der Einzelbefugnisse nicht streng gezogen waren, erwuchs daraus
einerseits ein beständiges Ringen und Bewegen, ein Anstreben der ver-
schiedenen Gewalten gegen einander, welches dem Entwicklungsgange eine
lebendige Spannung verlieh. Andererseits ergab sich daraus auch für den
politischen Bildungsprozess ein eigenthümliches Verfahren. Das staatliche
Leben prägte sich nämlich weit weniger in strengen Normen und Doctrinen
aus , als es vielmehr durch die mitwirkende Thätigkeit seiner Theilnehmer
in beständigem Fluss erhalten wurde , und namentlich in dem Herkommen
und der mit dem Leben sich fortbildenden Sitte den kräftigsten Anhalt
hatte.
1er Lehen- Charakteristisch ist in dieser Hinsicht besonders der Lehen staat,
Staat eine Schöpfung, die durchaus auf dem Boden mittelalterlicher Anschauung
erwachsen ist. Er erscheint als ein durchaus künstliches Product, dessen
Grund aber in dem Individualismus des germanischen Volksgeistes liegt.
Der Staat beruht hier nicht auf einer natürlich gewordenen Gesammtver-
fassung unter festen Gesetzen, sondern auf dem persönlichen Gelöbniss
und der Treue des freien Vasallen. nDie compacte Natureinheit der Völker
verschwindetrx, wie Schnaase treffend sagt, nund an ihre Stelle tritt eine
Masse persönlicher Verhältnisse; die Zufälligkeit der Verträge ersetzt die
innere Nothwendigkeit, und der Staat stellt sich als ein luftiges Gerüst dar,
das. von der grösseren Zahl der niederen Vasallen aufsteigend, durch
schmalere Mittelstufen sich bis zu einer einheitlichen Spitze erhebtm:
Dieser künstlich complicirte Aufbau wiederholt sich in allen mittelalter-
lichen Lebensäusserungen, und vorzüglich, wie wir bald sehen werden, in
den architektonischen Schöpfungen.
rpoyationg- Bei jenem V orwiegen der individuellen Richtung war es naturgemäss
geisi- geboten, dass der Hang nach freien, genossenschaftlichen Verbindungen
sich überall geltend machte. Er begann im geistlichen Stande mit dem
Mönch swesen und gab dort zuerst das Bild geschlossener Vereinigungen
zu gemeinsamen Zwecken und unter gemeinsamen Regeln. Am bezeichnend-
sten für das Mittelalter ist das Ritterthu m , welches unter einer auf beson-
ders ausgebildetes Ehrgefühl begründeten Verfassung einen durch die ganze
Christenheit reichendenlBund darstellte, der die Führung der Waffen einem
höheren sittlichen Gesetz unterwarf und also den kriegerischen Geist mit
den Forderungen des Christenthums in Einklang zu bringen suchte. Ganz
anderer Art waren in den Städten die Vereinigungen der Bürger nach ihren
Gewerben in Zünfte, so wie die Bündnisse der Städte unter einander zu
' Schutz und Trutz. Denn hier galt es die Wahrung wohlerworbener mate-
1591191" Interessen , die Erwerbung neuer Rechte und Vergünstigungen , die
Sicherung des Handels und Wandels. Wohin auch unser Blick fällt, überall
Wim? 91' auf feslägeschlossene Corporationen, auf eine Masse kleinerer oder
gYÖSSeYer GmPPen, so dass die volle Breite des Lebens sich in eine unzählige
Menge Selbständiger, freier, jedoch durch bestimmte Verbände unter einan-
der zusammengehaltener Glieder löst. Ueberall finden wir den Geist des
Individualismus in seiner mächtigen, gruppenbildenden, igolirenden Thätig-
keit, stets neu und unerschöpflich in seinen Gestaltungen. Aber diese Grup-
pen stehen dem tiefer Blickenden nicht lose und vereinzelt neben einander.
Ein gemeinsames Bewusstsein, dasselbe Gesammtziel verbindet die scheinbar
ler Leben-
staat.