Erstes Kapitel.
Charakter des Mittelalters.
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Wiedergeburt und verfolgt mit eiserner Consequenz alle ihre unbewachten
Aeusserungen. Indem es nun dem Menschen das beständige Ankämpfen
gegen jene natürlichen Eingebungen zur obersten Pflicht macht, reisst es
ihn gewaltsam aus der Naivetät seines ursprünglichen Daseins heraus , er-
füllt seine Seele mit dem.Gefühl des Zwiespaltes und Widerstreites und
hebt sie auf die einsame Höhe einer ätherischen Vergeistigung. Aber die
Natur weicht nicht so leichten Kaufes aus ihrem angestammten Gebiete.
Mag die christliche Lehre ihre Regungen als Einflüsterungen des Teufels
brandmarken, sie findet doch in dem Organismus des Menschen zu mächtige
Hebel, die sie fortwährend in Bewegung zu setzen nicht ermüdet. So ent- f
steht im einzelnen Individuum, so entstand in den Völkern des Mittelalters
jener gewaltige innere WViderstreit, jene tiefe Gährung, die durch alle Ge-
staltungen dieser Epoche hindurchklingt. Je ungebrochener aber in jenen
Zeiten die Naturkraft der Völker war, um so schneidender musste sich der
Gegensatz herausstellen. Die angeerbte Sitte trat in Coniiict mit den For-
derungen des Christenthums und hatte daher eben so wenig, eine Stütze
an diesem, wie dieses an ihr. Nimmt man dazu die Aeusserlichkeit, mit
welcher kindlich unreife Nationen das geistig Dargebotene auffassen, so
kann man sich über den schroffen Wechsel wilder Ausschweifung und
demüthiger Zerknirschung, den das Mittelalter so häufig darbietet, nicht
wundern. Selbst die Kirche, die sich doch als eigentliche Trägerin und Die Kirche.
Bewahrerin der Lehre hinstellte, vermochte sich dem Zwiespalt nicht zu
entziehen. Wohl prägte sie im Laufe der Zeit das christliche Dogma zu
einem grossartigen, in sich zusammenhängenden System aus: wohl suchte
sie sich dem durch Gegensätze zerrissenen weltlichen Leben als ruhige,
unveränderliche Einheit dominirend gegenüber zu stellen: aber wie sie in
ihren einzelnen Gliedern doch eben nur aus Menschen bestand, in denen
die Gewalt der Natur vielleicht nur um so energischer sich auflehnte, je
schärfer bei ihnen die Anforderungen der Religion in's Fleisch schnitten,
so erwuchs ihrer Gesammtheitiaus dem Streben nach weltlicher Macht und
Herrschaft mancherlei Streit und unheilige Trübung.
Wie viel mehr musste jener Zwiespalt sich im staatlichen Leben gel- D" Stim-
tend machen! Kam es hier doch geradezu darauf an, die Forderungen der.
christlichen Lehre auf die praktischen Verhältnisse des Daseins anzuwenden,
ihre Kraft und Reinheit an den Zuständen materiellster YVirklichkeit zu
erproben! Denn auf nichts Geringeres ging das höchste Streben des Mittel-
alters, als das Christenthum in allen Beziehungen des Lebens zur Herrschaft
zu bringen, oder, wie man sich gern ausdrückte, das Reich Gottes auf
Erden zu gründen. Aber diese ideale Forderung erfuhr einen hartnäckigen
Widerstand an dem mannichfachen Streit realer Interessen. Hier, wo der -
Egoismus jedes Standes, jeder Gewalt an seiner Wurzel gefasst wurde,
entbrannte überall der heftigste Kampf, mochte ihn die weltliche Macht
gegen die "kirchliche Anmassung weltlicher Herrschaft, mochten ihn die
Fürsten gegen einander, die nach Autonomie ringenden Städte gegen die
Fürsten, oder im Schoosse der Städte die vom Regiment ausgeschlossenen
Gemeinen gegen die Patrizier führen. Denn darin eben beruht eine Eigen-
thümlichkeit des ChristenthumS, dass alle jene widerstreitenden Bestre-
bungen aus ihm das Recht zu ihren Ansprüchen herleiten konnten, dass es
eben sowohl die Freiheit der Menschen unter einander verkündigt, als es