Volltext: Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart ; mit 448 Holzschnitt-Ill.

Erstes Kapitel. 
Charakter des Mittelalters. 
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Wiedergeburt und verfolgt mit eiserner Consequenz alle ihre unbewachten 
Aeusserungen. Indem es nun dem Menschen das beständige Ankämpfen  
gegen jene natürlichen Eingebungen zur obersten Pflicht macht, reisst es 
ihn gewaltsam aus der Naivetät seines ursprünglichen Daseins heraus , er- 
füllt seine Seele mit dem.Gefühl des Zwiespaltes und Widerstreites und 
hebt sie auf die einsame Höhe einer ätherischen Vergeistigung. Aber die 
Natur weicht nicht so leichten Kaufes aus ihrem angestammten Gebiete. 
Mag die christliche Lehre ihre Regungen als Einflüsterungen des Teufels 
brandmarken, sie findet doch in dem Organismus des Menschen zu mächtige  
Hebel, die sie fortwährend in Bewegung zu setzen nicht ermüdet. So ent- f 
steht im einzelnen Individuum, so entstand in den Völkern des Mittelalters 
jener gewaltige innere WViderstreit, jene tiefe Gährung, die durch alle Ge- 
staltungen dieser Epoche hindurchklingt. Je ungebrochener aber in jenen  
Zeiten die Naturkraft der Völker war, um so schneidender musste sich der 
Gegensatz herausstellen. Die angeerbte Sitte trat in Coniiict mit den For- 
derungen des Christenthums und hatte daher eben so wenig, eine Stütze 
an diesem, wie dieses an ihr. Nimmt man dazu die Aeusserlichkeit, mit 
welcher kindlich unreife Nationen das geistig Dargebotene auffassen, so 
kann man sich über den schroffen Wechsel wilder Ausschweifung und 
demüthiger Zerknirschung, den das Mittelalter so häufig darbietet, nicht 
wundern. Selbst die Kirche, die sich doch als eigentliche Trägerin und Die Kirche. 
Bewahrerin der Lehre hinstellte, vermochte sich dem Zwiespalt nicht zu 
entziehen. Wohl prägte sie im Laufe der Zeit das christliche Dogma zu 
einem grossartigen, in sich zusammenhängenden System aus: wohl suchte 
sie sich dem durch Gegensätze zerrissenen weltlichen Leben als ruhige, 
unveränderliche Einheit dominirend gegenüber zu stellen: aber wie sie in 
ihren einzelnen Gliedern doch eben nur aus Menschen bestand, in denen 
die Gewalt der Natur vielleicht nur um so energischer sich auflehnte, je 
schärfer bei ihnen die Anforderungen der Religion in's Fleisch schnitten, 
so erwuchs ihrer Gesammtheitiaus dem Streben nach weltlicher Macht und 
Herrschaft mancherlei Streit und unheilige Trübung. 
Wie viel mehr musste jener Zwiespalt sich im staatlichen Leben gel- D" Stim- 
tend machen! Kam es hier doch geradezu darauf an, die Forderungen der. 
christlichen Lehre auf die praktischen Verhältnisse des Daseins anzuwenden, 
ihre Kraft und Reinheit an den Zuständen materiellster YVirklichkeit zu 
erproben! Denn auf nichts Geringeres ging das höchste Streben des Mittel- 
alters, als das Christenthum in allen Beziehungen des Lebens zur Herrschaft 
zu bringen, oder, wie man sich gern ausdrückte, das Reich Gottes auf 
Erden zu gründen. Aber diese ideale Forderung erfuhr einen hartnäckigen 
Widerstand an dem mannichfachen Streit realer Interessen. Hier, wo der - 
Egoismus jedes Standes, jeder Gewalt an seiner Wurzel gefasst wurde, 
entbrannte überall der heftigste Kampf, mochte ihn die weltliche Macht 
gegen die "kirchliche Anmassung weltlicher Herrschaft, mochten ihn die 
Fürsten gegen einander, die nach Autonomie ringenden Städte gegen die 
Fürsten, oder im Schoosse der Städte die vom Regiment ausgeschlossenen 
Gemeinen gegen die Patrizier führen. Denn darin eben beruht eine Eigen- 
thümlichkeit des ChristenthumS, dass alle jene widerstreitenden Bestre- 
bungen aus ihm das Recht zu ihren Ansprüchen herleiten konnten, dass es 
eben sowohl die Freiheit der Menschen unter einander verkündigt, als es
	        
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