Drittes Kapitel.
Aeussere Verbreitung des mohamedanischen Styles.
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In Indien,
Persien
und
der 'l'i'lrkei.
Mit dem Eintritt in deneigentlichen Orient verschwindet jener Hauch
abendländischen Geistes, der in den Denkmälern Spaniens zu einer ge- Indien.
schichtlichen Entwicklung geführt hatte. Gleichwohl begegnen wir auch
hier architektonischen Leistungen, die zu den bedeutendsten des Islam
gerechnet werden müssen. Vorzüglich ist dies in Indien der Fall. Wie
überall, so nahm auch hier die mohamedanische Kunst in ihrer kosmopoli-
tischen Schmiegsamkeit Einwirkungen von den bereits vorhandenen Denk-
mälern des Landes in sich auf. Als gegen Ende des l '2. J ahrh. die Schwärme
der Mohamedaner Hindostan überfielen und hier auf dem Schauplatze ur-
alter, hoch entwickelter Cultur ein neues Reich gründeten, konnte es nicht
fehlen, dass die durch Kolossalität und Pracht gleich hervorragenden Bau-
werke der Hindu einen tiefen Eindruck auf die wilden Eroberer machten.
Bald wetteiferten sie mit dem Glanze jener alten Herrlichkeit, und ihre
Hauptstadt Delhi erwuchs an Prachtpalästen, Moscheen und grossartigen
Denkmälern zu einem Wunderwerke der Welt. Aber schon am Ende des
14. Jahrh. erlag das Reich den Anfällen der Mongolen, und das vielgeprie-
sene Delhi ward in einen Schutthaufen verwandelt. Auf den Trümmern
erhob sich ein neues Reich, die Herrschaft der Gross-Moguln, und unfern
des verödeten Delhi erstand eine neue Hauptstadt, Agra, die bald ihre e.
Vorgängerin an Grösse und Glanz noch übertraf.
YVährend des sechshundertjährigen Bestehens jener Reiche hat sich Charßrktgrder
eine Bauthätigkeit entfaltet, die an Umfang und Pracht der altindischen Denkmaler"
Architektur kaum weichtä). Vorzüglich charakteristisch ist an diesen-Denk-
mälern das mächtige monumentale Gefühl, die Grossartigkeit
der Gesammtanlage und die Gediegenheit des Materials
Eigenschaften, die ohne Zweifel auf einer Einwirkung Seitens jener älteren
Denkmäler des Landes beruhen. Nur vor der wirren Phantastik jener Werke
wusste sich der mohamedanische Styl im Ganzen wohl zu bewahren, wie
denn überhaupt von einem Nachahmen nur im Einzelnen die Rede sein
kann. In der Monumentalität der durchweg in mächtigen Qlladerconstruc-
tionen aufgeführten Bauten liegt aber nicht der einzige Vorzug dieser Ar-
chitektur, den sie obendrein mit der ägyptisch-mohamedanischen zu theilen
hätte. Noch bedeutsamer vielleicht und jedenfalls ausschliesslichcr ist bei
den indisch-mohamedanischen Denkmälern die Eigenthümlichkeit, dass sie
auch das Aeussere, welches die Araber sonst absichtlich unentwickelt lies-
sen, reich und dem Inneren entsprechend durchzuhilden pflegen. Die gewal-
tige Würfelförmige Masse des Baues wird durch Reihen von Bogenhallen,
Fenstern oder Nischen lebendig gegliedert. Meistens ist es die Form des
geschweiften Spitzbogens, des sogenannten Kielbogens (vgl. Fig. 142
auf S. 219), welche in diesen Bauten angewandt wird. Zwar ist er am wei-
testen von einer zweckmässigen Construction entfernt: allein die seltsame
Phantastik seiner Form ist ein Zugeständniss, welches man dem Orient
gern zu machen bereit ist, um so mehr, da die als kräftige Pfeiler behan-
delten Stützen wieder von einem verhältnissmässig bedeutenden Hangc
L. v. Orlich: Reise in Oätindiell- 4' LEiPZig 15g. Dan-ißll: Oriental scenex-y. London.
Ausserdem zahlreiche Holzschmttdarstellungen in J. Qfgllsßon: Handbqok cf architectnre. V01
London 1855.