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Viertes Buch.
Frist unterworfen, so dass nach kaum hundert Jahren der Halbmond von
der Südspitze Spaniens bis zu den Fluthen des Ganges herrschte.
Religion. Das Geheimniss dieser wunderbar rapiden Erfolge lag grösstentheils
im Wesen der Lehre Mohamed's begründet. In ihrem überwiegend sinnlich
aufgefassten Monotheismus, in dem seltsamen Gemisch von strenger Unter-
werfung und zügelloser Freiheit sagte sie den an Despotismus gewohnten,
aber phantastisch beweglichen Völkern des Orients vorzüglich zu. Schon
im Charakter der Araber, und dem gemäss auch in der Lehre des Islam,
verband sich das glühendste Leben einer rastlos schweifenden Einbildungs-
kraft mit der Thätigkeit eines scharfen, grüblerischen und berechnenden
Verstandes. In Folge dieser Contraste gestaltete sich bei den Mohameda-
nern einerseits ein ritterlich abenteuerndes Leben, welches in manchen
Grundzügen an das des christlichen Mittelalters erinnert, andererseits eine
hohe Blüthe der Cultur, besonders der Naturwissenschaften, Mathematik
und der Dichtkunst, so wie der Pflege und Bebauung des Bodens. Man
braucht nur an Spanien zu erinnern, welches unter der Herrschaft der Mau-
ren ein glänzendes Culturleben entfaltete , und nach Vertreibung derselben
immer tiefer in geistiges und materielles Elend versank. Es lagen also
reiche Keime der Entwicklung in der Weltanschauung des Islam enthalten,
und in der That predigt seine Lehre die schönsten Tugenden , die Tapfer-
keit, Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe, Gerechtigkeit, Treue und Mässi-
gung Eigenschaften, welche seinen Bekennern in hohem Grade eigen
waren. Kein Wunder daher, dass diese Lehre eben sowohl dem naiven
Naturgefühl uncivilisirter Völker, wie der vielgestaltigen Cultur des Orients
zusagte. Für den weltgeschichtlichen Kreis , in welchem sie sich zu bewe-
gen hatte, bot sie, gerade wie das römische Christenthum für den seinigen,
eine reiche Fülle praktisch-sittlicher und deshalb culturfördernder Elemente
dar, und erscheint dadurch der dogmatisch-finstern Starrheit der griechi-
schen Kirche weit überlegen.
Künstlerische Für die künstlerische Entwicklung des Mohamedanismus war aber ein
Anlagm anderer Umstand vorzüglich einflussreich. Als die Araber ihre Eroberungs-
züge antraten, waren sie gleich den Germanen, die über das Römerreich
herfielen, ein Naturvolk, dem eine höhere Cultur noch fremd war. Es
ergab sich daher als nothwendige, in der Geschichte auch anderwärts oft
beobachtete Folge, dass sie von der Bildung derjenigen Länder, welche sie
sich Imterwarfen, unwillkürlich selber Momente in sich aufnahmen. Dies
wurde durch den beweglichen, für äussere Eindrücke in hohem Grade em-
pfänglichen Charakter der Araber ganz besonders begünstigt. Am meisten
fand diese Aufnahme fremder Eigenthümlichkeiten auf dem Gebiete künst-
lerischen Schaffens statt. Da der Geist jenes unruhigen Volksstammes noch
weniger als der der israelitischen Nation die gestaltenbildende Thätigkeit
der Phantasie begünstigte , sondern die Visionen der schnell erregten Ein-
bildungskraft in jahem WVechsel an einander vorüberjagte, ehe plastisches
Erfassen und Ausbilden einer bestimmten Anschauung möglich yvar, so lag
darin die Unfähigkeit für bildende Kunst enthalten. Das Verbot
aller bildlichen Darstellung, welches der Koran ausspricht, war
eine einfache Folge dieser Eigenthümlichkeit des Volkscharakters , wenn-
gleich die Furcht vor dem Zurücksinken in die Vielgötterei des Heiden-
thums dabei mitbestimmend sein mochte. Gleichwohl erheischte der Cultus