172
Drittes Buch.
parallel entstandene Islam hier zur Betrachtung kommen müssen, da er in
verwandter Richtung an die Stelle des Alten, Hingesunkenen trat. Allein
in der Culturentfaltung überhaupt, wie besonders in der Kunst, nimmt er
doch nur eine untergeordnete Stellung ein, da er zu sehr in die phantasti-
sche Unklarheit des Orients aufging, um dem Geistesleben seine höchsten
Blüthen entlocken zu können. Die Cultur wandelt stetigen Schrittes von
Osten nach Westen , und so sind es jetzt die Völker des Abendlandes und
das durch sie aufgenommene Christenthum, welche fortan die Träger der
Entwicklung werden.
Neue Rich- Aber ganz unmerklich und allmählich wand sich dieser neue Geist aus
m"? dem Schoosse des alten hervor. Im tieferen Geistesleben der Völker gibt
es keine schroffen Sprünge wie in unseren Geschichtsbüchern, wo ein
Abschnitt zwei Culturepochen miteinem Federstriche sondert. In allem
inneren Leben ist ein ununterbrochener Zusammenhang wie im Reiche
vegetativer Natur. Da keimen auch schon, während die alten Halme welken,
still und verborgen die neuen Triebe hervor, und ehe noch jene sich ganz
aufgelöst haben, überrascht uns bereits ein junges grünendes Leben. Dies
allmähliche Wachsthum tritt in der Geschichte vielleicht nirgends klarer
hervor, als gerade in dieser bedeutungsschweren Epoche. Wie die junge
WVelt sich schon mitten im Verfall der alten bemerken liess, so belauschten
wir auch in der Architektur berei-ts die Elemente, welche zukunftverkündend
auf eine neue Entwicklung hinwiesen.
Yerläilrrniss Darum lässt sich auch für die Architektur eben so wenig wie für das
Architeknu, Leben überhaupt hier ein scharfer Abschnitt machen, der in einem äusser-
liehen Factum seinen Markstein hätte. Weder Constantins Erhebung des
Christenthums zur Staatsreligion, noch die Trennung des weströmischen
und oströmischen Reiches. noch endlich der Untergang des ersteren bildet
einen solchen Wendepunkt. Vielmehr bedarf der neue Geist, bedarf das
Christenthum noch immer der alten heidnischen Formen, und diese Ueber-
gangsstellung behält die Architektur während dieses ganzen Zeitraumes.
Denn sie ist jetzt nicht mehr Aufgabe eines Volkes, sondern
der ganzen Menschheit. Eine durchgreifende Neugestaltung konnte
sie erst erfahren, nachdem die Stürme der Völkerwanderung einerseits die
zu. mächtig imponirenden Zeugnisse antik-römischen Lebens zum grossen
Theil zerstört, andrerseits frische Oulturvölker auf den Vordergrund der
Weltbühne geworfen hatten, die dem neuen Inhalt die neue Form zu
schaffen vermochten. Gleichwohl erfuhr schon in der ersten Epoche die
Architektur manche Umgestaltungen, die ihr inneres Wesen scharf berühr-
ten und für die Folgezeit zu wichtigen Momenten der Entwicklung wurden.
XVie diese Kunstthätigkeit sich in zwei verschiedenen Richtungen entfaltete,
deren Mittelpunkte Rom und die neugeschaffene Hauptstadt des oströmi-
scheu Reiches, Constantixiopel, bilden, ist im Folgenden näher zu erörtern.