Erstes Kapitel.
Griechische Baukunst.
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Oeffnung in der Nordmauer führte. Südlich aber tritt ein kleiner Anbau C
hervor, dessen Decke von sechs weiblichen Statuen, sogenannten Kary a-
tiden, anstatt der Säulen, getragen wird. Sie stehen auf einer gemein-
samen hohen Mauerbrüstung. Hier fand sich wahrscheinlich der heilige
Oelbaum. In der Cella der Athene Polias führen an den Wänden Treppen-
spuren in einen unterirdischen Raum, der vermuthlich die Gräber des
Erechtheus und anderer attischer Hcroen umschloss. Die Bestimmung der
einzelnen Räumlichkeiten nachzuweisen, ist seit langer Zeit Gegenstand
archäologischer Debatten, an welchen sich namentlich Fr. Tlziersclz, O. B6!-
lioller und T ätaz betheiligt haben. Die gänzliche Zerstörung der ehemaligen
inneren Einrichtung, der Umstand, dass das alte Heiligthum nach einander
als christliche Kirche, als türkischer Harem und als Pulvermagazin gedient
hat, und vielen Umwandlungen und Verstümmelungen unterworfen war,
die Dunkelheit der Nachrichten bei den alten Schriftstellern lassen geringe
Aussicht auf eine Lösung der Räthscl dieses merkwürdigen Baues. Um-
fasst man jedoch, abgesehen von diesen Dunkelheiten der inneren Einrich-
tung, die ganze Anlage mit einem Blick, so wird man entzückt von der
Harmonie der verschiedenartigen Theile, dem edlen Leben des Ganzen, der
graziösen Entfaltung der Formen. Die nördliche Vorhalle, die niedriger
liegt als der Hauptbau, wird vom reich geschmückten Dache desselben
überragt, und die Karyatidenhalle, zu der man aus letzterem wieder mit
mehreren Stufen aufsteigt, schmiegt sich in anmuthiger Bescheidenheit an
seine südliche Seite. Der attisch-ionische Styl erscheint in diesem unver-
gleichlichen Bau in seiner üppig reichsten Ausbildung, die fast schon über
seinen eigentlichen Charakter leichter Zierlichkeit hinausgeht und in's
Prunkende fällt. Die Verhältnisse sind leichter, schlanker, feiner als am
Niketempel und Selbst als beim Tempel am Ilissus. Besonders zeigen die
Säulen der nördlichen Halle die höchste Zierlichkeit. Beträgt die Säulenhöhe
der östlichen Vorhalle noch 83k, Durch-
Fig. 77. messer, so erhebt sie sich hier (vgl. Fig. 52)
v, v auf S. S9) auf Qß; ist dort die Zwischen-
weite gleich 2 Durchmessern, so hat Sie
(da: Ä hier 3 ; hat das Gebälk dort die Höhe von
f, l 21A, Durchmessern, so erreicht es hier kaum
Q _ 2. Dazu kommt an allen Theilen des gan-
x' zen Baues ein Reichthum, eine Feinheit
der Ornamente, die nie wieder erreicht
' 'i 'l' ' 1 Würden sind. Die Saulenbasen mit ihrer
ädlen attischen Form sind auf dem oberen
SZiilftijgeieHQZÜÄÄEÜÜÄTCIGBZÄHÄIZTÄIEE
der Kapitale mit ihren doppelten Säumen
Sllld VOIII graziösesten Schwung; am Echi-
Von deiuNordhalle des Erechthcions. nus des Kapitals pulst das innerste Leben
des sanft gebogenen Profils in den über-
fallenden Bläflem, die ihn bedecken; und endlich spriesst das ganze Ka-
pital aus einem Kranzc ZieYHCheY , leis ausgemeisselter Palmetten hervor,
die sich in reichem Gewinde um den Hals der Säule schlingen. In ähn-
lichem Reichthum und gleicher Schönheit sind die Kapitale der Anten und
b k e , Geschichte d.
Architektur