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Zweites Buch.
nur dem betreffenden Gott zur Ehre errichtet waren und mit der Feier der
öffentlichen Spiele zusammenhingen. Er bewahrte die kostbaren XVcih-
gcschenke der Göttin, er umschloss aber auch die zu den heiligen Festen
erforderlichen Geräthc, unter dem Gewahrsam der vom Volk erwählten
Schatzmeister. Sodann aber wurden in ihm Angesichts des thronenden Göt-
terbildes, das die siegverleihende Nike trug, die Sieger jener feierlichen
Spiele , der Panathenaeen , im Beisein der Obrigkeiten und der Gesandten
befreundeter Staaten bekränzt, während von der oberen Galerie die Hymnen
des Sängerchores herabtönten. Im Opisthodomos dagegen, dessen Decke
durch vier Säulen getragen wurde, war der Staatsschatz niedergelegt, der
dort von den Beamten des Volks verwaltet wurde. Von den bewunderns-
würdigen Bildwerken, welche, unzweifelhaft unter Phidias' eigner Leitung
entstanden, den Tempel schmückten, sind die bedeutendsten Reste auf uns
gekommen, zum grössten Theil von Lord Elgin entführt und in das briti-
sche Museum gebracht. An den Friesen, welche die Wände der Cella um-
ziehen , waren in fortlaufender Darstellung Scenen aus dem Festzuge der
Panathenaeen, jener grossen, alle fünf Jahre wiederkehrenden Staats-Feier-
lichkeit, oder, wie Bätticlzer will, aus den vorbereitenden Uebungen zu
diesem Zuge als Reliefs angebracht. In den Metopen sah man die Kämpfe
der Kyklopen und Giganten, in den Giebelfeldern Statuengruppen, die Ge-
burt der Pallas und ihren Wettkampf mit Poseidon enthaltend. Auch die
Construction des Parthenon zeigt manches Besondere und beweist nament-
lich, mit welcher Sorgfalt und Umsicht auf alle Eigenheiten des Materiales
geachtet wurde, um dem Baue die möglichste Dauerbarkeit zu sichern.
So sind die Epistyle a_us drei schmalen und hohen, neben einander liegenden
Balken gebildet, so bestehen die Säulenschäfte aus zwölf durch metallene
Dübel. verbundenen , sorgfältig auf einander geschliffenen Trommeln. Der
Bau, im Mittelalter zu einer Kirche umgewandelt, hatte denn auch im
Wesentlichen unversehrt mehr als zwei Jahrtausende überdauert, als er im
17. J ahrh. durch die Kugeln der Venetianer den ersten Stoss der Zerstörung
erfuhr. Eine Bombe, welche mitten auf das Dach fiel, zerschmetterte das-
selbe und zerriss den herrlichen Bau in zwei Hälften. Neue schwere Ver-
letzuugen erfuhr er durch die Rohheit der Werkleute Lord Elgin's beim
gewaltsamen Herausbrechen der Metopentafeln.
Recht verständlich in seiner Gesammterscheinung wird der Parthenon
durch ein anderes , ihm im Aufbau und der Formenbehandlung nahe ver-
wandtes Bauwerk, das, kaum halb so gross wie jener, an Adel der Durch-
bildung nicht hinter ihm bleibt. Es ist der Theseustempel zu Athen.
Das Mittelalter hatte ihn in eine Kirche zu Ehren St. Georgs umgewandelt,
und der christliche Heilige rettete das Haus des heidnischen Heroen. Auch
dieser nur 45 zu 104 Fuss messende Tempel ist ein Peripteros, jedoch mit
nur sechs Säulen in der Front und dreizehn an jeder Seite. Auch hier be-
grüsst uns eine hohe Harmonie und Anmuth, die vielleicht den fast schon
zu geistreich feinen Parthenon noch übertrifft. Namentlich sind die Kapitale
(Fig. 73) mit ihrem straffen Echinus und den vier Ringen von edelster
Bildung, und so zeugen alle Details von einem feinen Verständniss der
Form und ihres Wesens. Die Verhältnisse sind schlank und edel, leicht
und würdig, doch nicht in dem Maasse wie dort. Zählte dort die Säulen-
höhe 51., Durchmesser, so hat sie hier nur 572; war der Abstand dort