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Zweites Buch.
hier der Abstand noch weiter, die Säule durch das hohe Kapitäl noch höher
und schlanker, der Eindruck demnach noch lichter und freier. Mancherlei
Willkürlichkeiten laufen indess bei der Bildung der Canelluren mit unter,
z. B. dass sie manchmal in einer zugespitzten Blattform endigen, wie beim
Monument des Lysikrates (Fig. 81).
Vorzugsweise charakteristisch ist die Form des K a p i t l s. WVährend (las
dorische Kapitäl in einfachster, völlig naturgemässer Weise den Conflict zwi-
schen dem stützenden Siiulenschaft und dem Epistyl ausprägte, während das
ionische Kapitäl denselben Zweck in freierer Weise, mit einer Andeutung des
vom Gebälk zurückwirkenden Druckes erfüllte, greift beim korinthischen Ka-
pitäl der architektonische Genius zu noch freierer, reicherer Gestaltung, zu
den Formen des Püanzenreichs. Ein Astragal fasst oben die Kraft des Stammes
zusammen und lässt das Kapitäl in der Gestalt eines geöffneten Blumen-
kclches emporsteigen. Bei den Griechen hat nun zwar in der besten Zeit
die korinthisehe Kapitälbildung nicht jene stereotype Form gehabt, in wel-
cher wir sie später bei den Römern kennen lernen; vielmehr ist der schaf-
fenden Phantasie genug Spielraum gelassen , um durch Mannichfaltigkcit
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Kapitiil vom Thurm der Winde.
der Zusammensetzung der Lust nach bewegteren, reicheren Formen zu
willfahren. Allen derartigen Bildungen ist, aber zunächst die Form des
Kelches oder des Kalathos (eines geflochtenen, offenen Korbes) gemeinsam.
Dieser wird meistens mit zwei Blattkränzen umkleidet, und zwar so, dass
von dem Astragal zuerst ein Kreis von acht Blättern des Akanthus (Bären-
klau) aufsteigt, die mit ihren Spitzen zierlich überschlagend sich kräftig
aufgerichtet nach aussen biegen. Hinter diesen erhebt sich sodann eine
zweite Reihe schilfartiger Blätter, welche vom Abakus belastet sich mit den
Spitzen ebenfalls auswärts krümmen und auf solche Weise den Conflict