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Zehntes Hauptstück.
die sich Michelangelds mächtiger Römergeist mit Vorliebe zu
eigen machte, weil sie für sein grossartig keckes, individuelles,
freies, auf malerische Massenwirkung, dekorativ-plastische Fülle
und Bewegung gerichtetes Streben die erforderlichen traditionellen
Elemente boten.
Die Triumphalsäule ist männlicher, stämmiger, dabei prunk-
voller, als die korinthische, sie ist schwach verjüngt mit leichter
Anschwellung, mit reichstem, obschon keineswegs nothwendig
überladenem Gebälk, das im Prinzipe von dem korinthischen
nicht verschieden ist.
Es ist nun Zeit, diesen Hauptabschnitt über Stereotomie zum
Abschluss zu bringen, dessen Grenzen in das Gebiet der allge-
meinen Baulehre wohl hin und wieder schon überschritten worden
sind. Das Wesen hellenischer Baukunst und ihrer antiken und
modernen Abzweigungen ist mit der Stereotomie und ihrer Ent-
wicklungsgeschichte, besonders aber mit der Steintektonik, so
innig verwachsen, dass wir ohnedies noch in den betreffenden Ka-
piteln des dritten Bandes genöthigt sein werden, an den hier be-
handelten Stoff wieder anzuknüpfen.
Wenn wir wahrnehmen, wie jede der drei Hauptordnungen be-
stimmten Perioden und bestimmten Theilen der klassischen Welt
fast ausschliesslieh angehört, wenn wir sehen, wie ihr kombinirtes
Auftreten sich eigentlich darauf beschränkt, dass bei äusserlieh
dorischen Werken mitunter die innere hypostyle Ordnung ionisch
ist (und dieses eigentlich nur bei attisch-dorischen Werken), so
drängt sich die Frage auf: wo und wann ist die schon im Vitruv
vollständig enthaltene Theorie von der Bedeutung der drei Weisen
für Charakteristik und sogar für Ausdruck des Individuellen in
der Baukunst zuerst entstanden?
So lange die verschiedenen Weisen noch typische Bedeutung
hatten, indem sie aus den sich historisch gestaltenden Richtungsver-
schiedenheiten des hellenischen Seins naturgemäss erwachsen und
daher Erkennungs- und Unterscheidungszeichen für letztere waren,
konnte die Baukunst aus ihnen noch nicht den Ausdruck des-
Charakteristischen und Individuellen entnehmen. Auch nur Der-
artiges erreichen zu wollen, mochte der Baukunst noch gar nicht
beigekommen sein. Verwarf doch der schon ziemlich späte Her-