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Zehntes
Hauptstück.
den Knauf mit Voluten (gleichsam aufgebundenen Haarzöpfen)
und mit dem verzierten Kymation (gleichsam Stirnlocken) weib-
lich geschmückt, den Säulenstamm aber kannelirt, um auf das
faltige Gewand der Matronen hinzudeuten.
S0 habe man nach dem Gegensatze männlicher Kraft und Ein-
fachheit und weiblicher Anmuth und Zierlichkeit die beiden Ord-
nungen (oder Weisen) der Säulen erfunden; in der Folge habe
man nach der Richtung des Zierlichen und Leichten an den Ver-
hältnissen beider Ordnungen geändert und den dorischen Säulen
7 den ionischen 9 Durchmesser zur Höhe gegeben u. s. w.
Die in diese Sage verHochtene Formensymbolik lassen wir auf
sich beruhen (ihr nicht zu verkennender Einfluss auf die Weiterbil-
dung bestehender Bauformen wurde schon oben eingeräumt) heben
dafür als das Wichtigste ihres Inhalts Folgendes hervor:
Die Sage schreibt die Erfindung eines besonderen Genus der
Tempelanlage den Doriern des Peloponnes, die Feststellung der
Ordnungen in Anwendung der Säulen auf das dorische Genus
von Tempeln den Ionern Asiens zu.
Was ist hier unter der dorischen ("zufälligen") Erfindung, dem
genus doricum zu verstehen? Die dorische Säule mit ihrem
Triglyphengebälke kann nicht gemeint sein, denn dafür fehlte
ja den Ionern gerade das Vorbild, wesshalb sie, bei der Aus-
führung des dorischen Genus und der Wahl der dazu nöthigen
Säulen auf sich selbst gewiesen, es auch später in ioniseher
Weise ausführten; vielmehr kann sich das genus doricum nur auf
eine besondere Bauanlage, eine spezifische Tempelform beziehen.
So ist es in der That, das genus doricum ist das peripterische
hellenisch-dorische Tempeldaeh, das schon oben 169) als der
Kern und das Wesen der hellenischen Baukunst bezeichnet wurde.
Zugleich enthält die Legende die Andeutung einer besonders
schlanken dorischen Säule, deren sich die Ioner vor der Auf-
nahme der ionischen Volutensäule bedienten, als deren Nach-
kommen wir die regenerirlte attisch-dorische betrachten dürfen.
Diesem frühionischen Kanon mit dorisirenden Details entsprach
muthmasslich noch der berühmte Tempel der Hera zu Samos, den
Vitruv ausdrücklich als dorisch bezeichnet, Wofür ihn jedoch unsere
Gelehrten nicht gelten lassen wollen, sondern lieber dem alten
Autor Gewalt anthun, Wegen des Vorhandenseins einer Säule mit
alterthümlich ionischcr Basis. Aber das Kapital dieser Säule zeigt