DIE
MADONNEN
RAF FAEIJS.
in der Sammlung Malcolm in London, welche Raffael noch öfter wieder-
holt hat, lehrt uns fein Madonnenideal, wie es ihm am Anfange feiner
tlorentiner Zeit vorfchwebte, kennen. Das Blatt galt früher für das Porträt
von Raffaels Schwefter. (Fig. 29.) Ganz ohne Grund; nur in einem Punkte
war diefe Meinung im Rechte, dafs das Bild ein genaues Naturfttidium
vorausfetzt und feine Hauptzüge einer lebendigen Perfönlichkeit entlehnt
find. Es ifl kein blofser Modellact, vielmehr von dem Künftler aus der
Erinnerung gezeichnet und den Madonnentylaen angepafst. Nur den
Kopf bis zum Schulteranfatz hat Raffael wiedergegeben. Das Haar in
der Mitte glatt gefcheitelt, mit einem dünnen Schleier bedeckt, iPt hinter
das Ohr zurückgeftrichen, der Blick erfcheint gefenkt, das Geficht, faft
ganz von vorne genommen, leife nach links geneigt. Raffael hat diefen
Kopf auf keinem Madonnengemälde wiederholt, wohl aber den meiiten
feiner florentiner Madonnenköpfe zu Grunde gelegt.
T
Gar grofsen Dank würden wir Vafari zollen, wenn 1er die genaue
Zeitfolge der Raffaelifchen Madonnen niedergefchrieben hätte. Sein
Schweigen fagt uns, dafs fchon zu feiner Zeit die Tradition darüber
ftumm war. Er begnügt lich, die Madonna mit dem Stieglitz (Gal. Ufnzj)
näher zu fchildern und dafs üe Raffael feinem Freunde Lorenzo Nafi
zum Hochzeitsgefchenk beftimmt hatte, anzugeben. Er erwähnt fodann
und befchreibt die Madonna Canigiani (München), erzählt, dafs Raffael
für den Herzog Guidobaldo von Urbino zwei kleine, nicht näher be-
zeichnete Madonnenbilder gemalt habe, und verfichert, dafs bei Raffaels
Wegzug von Florenz ein unvollendetes Madonnengemälde von Ridolfo
Ghirlandajo fertig gemalt wurde. Das ift die ganze Kunde, die wir
Vafari über Raffaels Horentinifche Madonnen verdanken. Die Infchriften
auf den Gemälden felbft, fonft eine {ichere Handhabe für die Zeit-
beftimmung, bieten nur eine geringe Hilfe. Vier Madonnen hat Raffael
mit der Jahreszahl verfehen: die Madonna im Grünen (Wien), die Madonna
mit dem Lamme (Madrid), die vbelle jardinierer (Paris) und die Madonna
Niccolini (Lord Cowper in Panshanger). Das Unglück will aber, dafs
mit Ausnahme des letzten Datums (1508) alle anderen verfchieden ge-
lefen werden und in der That die? vollftändige Deutlichkeit vermiffen
laffen. IP: das Wiener Gemälde 1505 oder 1506, die Madonna mit dem
Lamme 1506 oder 1507, die giardiniera 1507 oder 1508 gemalt worden?
Der Streit darüber kann, wenn blofs die Infchriften zu Rathe gezogen
werden, die Werke felbit überdauern. Dem Stilgefühle allein mufs die