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MICHELANGELOS
JUGEND.
Bilder in Wirklichkeit erblickt. Kämen {ie vor, fo würde Liebeswahnflnn
unabwendbar uns berücken. Niemand aber darf behaupten, dafs fie der
vollen Lebenskraft und Wahrheit entbehren. Solchen verftricltenden Bei-
fpielen konnte kein junger Künftler flch entziehen, auch Michelangelo nicht.
In feinen früheren Jahren pflegte er in der bei Bildhauern üblichen Weife zu
zeichnen. Derbe kräftige Linien umziehen die Geftalten, mit breiter Feder
geführte Striche, zuweilen von anderen gekreuzt, deuten die Rundung der
Glieder, die verfchiedenen Flächen an, die Muskeln werden kräftig betont,
die Körper vorwiegend vom anatomifchen Standpunkte ftudiert. Die ge-
botenen Proben, in Rom gefchaffen, als Michelangelo im unmittelbaren
Banne der Antike ftand, an der Bacchusftatue arbeitete und den Herakles-
torfo bewunderte, zeigen diefe für Michelangelds Entwickelung bedeutfame
Manier mit hinreichender Deutlichkeit. (Fig. I3 u. I4.) Auffallend unter-
fcheiden {ich von diefer erft fpäter wieder in den Vordergrund getretenen
Weife mehrere Blätter aus den Jahren feines Florentiner Aufenthaltes,
I 501-41 50 5. Wir befltzen eine Reihe von Röthelzeichnungen, welche das
eingehende Studium Leonardols kundgeben. Sie {tellen bald Charakterkölafe
vor, 1nit fcharf zugefpitztem Ausdrucke, bald verkörpern fle Träume idealer
Jugendfchönheit, fuchen an Profilftudien das Gefetz weiblicher Anmuth
feflzuftellen oder flnd der Erinnerung an antike Axifchauungen geweiht.
Die Anklänge an Leonardo wird Niemand bezweifeln, Welcher den Blick
13731151138 nebenftehende Blatt aus der Oxforder Sammlung wirft. (Fig. I 5.)
Nicht blofs einzelne Typen, wie der grinfende Faunkopf unten in der
rechten Ecke oder die Frauenprofile oben, gehen unbefchadet aller Selb-
ftändigkeit des jüngeren Meifters auf Leonardo zurück, auch in der
technifchen Behandlung, in der Rundung der Köpfe durch Helldunkel,
14. in der freieren Lockenzeichnung bei dem Jüngling links oben erkennt
man Leonardos Vorbild.
T
Michelangelds Kunft follte {ich aber noch viel enger mit Leonardds
Wirken berühren, der Nachahmer zum Mitbewerber um den höchften
Ruhm und zum Nebenbuhler emporfteigen. Soderinfs Wahl zum lebens-
länglichen Gonfaloniere bezeichnet nicht allein einen leider nur kurz
währenden Ruhepunkt in den Parteiungen der Republik, fondern auch
die Rückkehr zu der Kunftliebe, welche früher in Florenz heimifch ge-
wefen war. Die Zünfte freilich, theilweife verarmt, konnten nicht mehr
das alte Maecenatenthum durchführen, auch die Befiellungen fo mancher
reicher Familien, wie der Medici, fehlten. Dafür trat der Staat felbft
ein. Es wurde befchloffen, den Palaft, den Sitz des Gonfaloniere, in deffen