MICHELANGELO
UND
LEONARDO.
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fchmachvoll das Werk mufstePc fiehen laffen! So erzählt ein Anonymus,
der noch vor Vafari Leonardds Leben kurz befchriebßä) Wir haben
keine Urfache, die Wahrheit der Anekdote zu bezweifeln, wir befitzen
nicht einmal den Muth, den gehäffigen Ton durCh die aufbrilufende
Leidenfchaft zu entfchuldigen. Der innere Gegenfatz ZWifChCn den beiden
Männern war zu grofs, als dafs er fich nicht auch äufserlich kundgegeben
hätte. Als ein Wunder menfchlicher Vollendung wurde Leonardo ge-
priefen. Mit verfchwenderifcher Freigebigkeit hatte die Natur ihn aus-
geftattet, zur Schönheit und Kraft des Leibes eine kaum überfehbare
Fülle geiftiger Gaben hinzugefügt, der Summe feiner Fähigkeiten die
weiteilen Schranken, welche das Einzelwefen ertragen kann, gefteckt.
Nur als Probe von dem Umfange feines Könnens und von der Tiefe
feines Wiffens feffelte ihn die einzelne That; fehlte diefer Reiz, blieb
das Wagen und Verfuchen ausgefchloffen, fo fank auch fein lntereffe,
und es koflete ihm dann kein Opfer, begonnene Arbeiten abzubrechen,
einen eingefchlagenen Wirkungskreis zu verlaffen. Unberührt von forg-
lichen Gedanken und gewöhnlichen Nöthen wandelt Leonardo heiter auf
der Höhe des Lebens. Das Glück, welches der Philifter {ich wünfcht,
mag er nicht gekoftet haben, wohl aber alle die Wonnen und Seligkeiten
genoffen, welche die geheimnifsvolle Welt tiefer und zarter Empfindung
gewährt. So lehren uns feine Werke, das verrathen die Nachrichten,
die fich von feinem Leben erhalten haben. Wie ganz anders erfcheint
Michelangelds Bild. Auf einem wenig anfehnlichen, mehr zähen als
flarken Körper fafs der übermächtige Kopf. Wie der leiblichen Geflalt
das Ebenmafs und die unmittelbare Anmuth fehlte, fo war auch feinem
Geifte ein heiter harmonifches Wefen nicht gegeben. Er ift flrenge gegen
fich felbft, leicht herbe und vorurtheilsvoll gegen Andere, frühzeitig mit
Familienforgen beladen, den Familienfretiden aber entfremdet. Zu viel
Sonnenfchein des Lebens hat ihn nicht verwöhnt. Während der Ruhm
den glücklichen Leonardo gleichfam ohne fein Zuthun anilog, hat Michel-
angelo feine Gröfse unter herben Kämpfen durch unabläffige Arbeit er-
rungen. In einem Punkte ähnelt ihr Schickfal. Die Zahl ihrer halb
angefangenen, abgebrochenen Werke überwiegt bei Weitem die Summe
der vollendeten Schöpfungen. Schwerlich hat es Leonardds Stimmung
dauernd getrübt, Michelangelo erblickte aber darin geradezu einen Fluch
feines Lebens und konnte {ich über das unverfchuldete Fehlfchlagen fo
vieler Pläne und Entwürfe niemals tröften. Kein Wunder, dafs zwifchen
den beiden fo verfchieden gearteten und fo ungleich von dem Gefchicke
Archivio storico ser.
III, tomo XVI, pi