Volltext: Bis zum Tode Julius II. (Bd. 1)

MICHELANGELOS 
JUGENI x 
Gruppe auf das engfte abfchliefst. Im tiefen "Hohlwege des Mittel- 
grundes wandert rüilig, nach der Familienfcene fröhlich zurückfchatiend, 
der Johannesknabe. Nackte Geftalten, an eine halbkreisförmige Baluftrade 
angelehnt, oder auf ihr fitzend, beleben den Hintergrund. Aehnliche 
Geftalten hatlMichelangelo fchonauf feinem früheften Relief, der nMa- 
donna an der Treppee "angebracht. Er folgte darin der Sitte, welche 
durch die Schule des Piero della Francesca aufgebracht wurde. Durch 
diefe kleinen Figuren, die nicht das geringfte Verhältnifs zur Handlung 
haben, follte bald die perfpectivifche Kunit des Malers, bald feine Gewalt 
über das Nackte bewieifen werden. In beiden Richtungen ftrebte das 
fünfzehnteijahrhundert Vollendung an und freute fich, bei jedem Anlafs 
Proben des ftetigen Fortfchrittes vorlegen" zu können. Und fo wollte; 
auch Michelangelo in den lebendig bewegten nackten Geftalten des 
Hintergrundes vfeine Hand weifenr. Nicht fie allein reden dem plafti- 
fchen Charakter des Bildes das Wort; das ganze Werk athmet denfelben 
und offenbart, wie mächtig das befondere Augenmerk des Meifters auf 
die vollendet gezeichneten und unübertrefflich modellirten Formen ge- 
richtet war. Die Färbung, bei dem Madonnengewande oben röthlich, 
unten blau, bei dem Kleide ]ofeph's oben bläulichgrau, unten dagegen 
orange, im Fleifche wenig über den dominirenden bräunlichen Ton hinaus- 
gehend, hilft Licht und Schatten beffer vertheilen, die Flächen runden, 
die Glieder von einander abheben, wird aber doch nur als ein unter- 
geordnetes Ausdrucksmittel verwendet. So bleibt alfo Michelangelo 
während diefer ganzen erften Periode feiner Entwickelung Plafiiker, und 
fo lange er diefes bleibt, nehmen auch feine Geftalten nicht das ge- 
heimnifsvoll fubjective, gewaltfame Wefen an, das ihnen in fpäterer Zeit 
nicht felten aufgedrückt wird. Seine Seele erfcheint verhältnifsmäfsig hell 
geilimmt, feine Schöpfungen fchliefsen {ich dem herrfchenden Renaiffance- 
kreife ungezwungen an. Doch fchon naht der entfcheidende Umfchwung. 
Er wird herbeigeführt durch die Uebernahme eines grofsen malerifchen 
Werkes, durch den Wettftreit mit Leonardo da Vinci. 
T 
Die Zuftände von Florenz fchienen endlich nach längerem Wirrfal, 
bald nach dem Beginn des neuen Jahrhunderts, einer Wendung zum 
Befferen und der viel erfehnten gröfseren Stetigkeit entgegenzugehen. 
Seit der Hinrichtung Savonarolzfs, der als ein Sühnopfer politifcher 
Leidenfchaften flerben mufste, hatten {ich die Parteiwogen geglättet. 
Noch immer fuchten zwar die Florentiner nach der bellen Verfaffung,
	        
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