MADONNA
D ELLA
SEDIA.
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kennen. Was uns als die Frucht einer augenblicklichen Stimmung, hervor-
gerufen und begünftigt durch einen glücklichen Anblick, erfcheint, ift in
NVahrheit eine allmählich gereifte Schöpfung der Phantafie, bei welcher
auch weife Erwägungen mitwirkten. Leugnen läfst {ich aber nicht, dafs
Raffael felbilt zu der erfteren Meinung durch die Fülle des naiven un-
mittelbaren Lebens verlockt, welche er über die ganze Gruppe ausbreitet.
Die Madonna ift in der That in Zügen, Ausdruck und Körperbau eine
echte Römerin; auch ihre Tracht, das geftreifte Kopftuch, ferner das in
das gefranPre Brufttuch eingewebte Mufter, die Art, wie jenes getragen,
diefes um die Schultern gewunden wird, zeigt das Weib aus dem Volke.
Der Wirklichkeit abgelaufcht und mit köitlicher Wahrheit wieder-
gegeben erfcheint auch die Haltung des Chriftkindes, fo namentlich das
fpielende Zurückbiegen der Zehen des rechten Fufses. Die technifche
Ausführung könnte gleichfalls auf den erften Blick zu dem Glauben einer
rafchen Improvifation verleiten. Raffael hat die Farbe leicht aufgetragen,
die einzelnen Töne einfach ohne weitere Verbindung neben einander
gefeftzt, oft nur mit einigen wenigen Pinfelftrichen die Formen angedeutet.
Dennoch möchte einen argen Irrthum begehen, wer daraus auf eine
Süchtige Arbeit fchliefsen würde. Die geniale Sicherheit des vollendeten
Künftlers liefs die kurze Arbeit ganze Arbeit werden. Seine Thätigkeit
als Frescomaler hatte ihn gelehrt, fich nicht allzufehr auf die Wirkungen
des Vertreibens der Farben und des wiederholten Uebergehens der ein-
zelnen Stellen zu verlaffen, fondern die Töne von allem Anfange an feft
und bleibend zu bilden. Diefelbe Thätigkeit, verbunden mit dem freudigen
Eingehen auf den malerifchen Stil, hatte ihm den breiten Auftrag, das
kräftige Schattiren, die modellirende Färbung nahe gebracht. Allen
Gewinn des römifchen Lebens fetzte er ein, um das liebgewordene
Horentiner Traumbild der Madonna, welche ftill felig das Mutterglück
geniefst, noch einmal zu verkörpern, durch die Anwendung grofsartiger
Kunftmittel zu verklären.
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Es ift das letzte Mal, dafs Raffael in feinen Schöpfungen auf die
eigene künftlerifche Vergangenheit zurückkommt, gleichfam einen Rück-
blick {ich gönnt. Seitdem taucht keine Erinnerung an die Horentiner
Zeiten in feinen Bildern auf, bewegt er fich ausfchliefslich in den Geleifen,
Welche erft in Rom gelegt wurden. Beinahe gleichzeitig mit diefer
Wendung trat auch ein Wechfel in feinem äufseren Leben ein. Papft
Julius II. ftarb am 20. Februar 1513,
Mit Fug und Recht darf feine Regierung als der wichtigfte Mark-