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RAFFAEL IN ROM UNTER jULlUS II.
ähnlichen Eindruck wie der Himmel, der flch in der Disputa über den
Helden des Glaubens wölbt, oder wie Apoll mit den neuen Mufen, welche
den Gipfel des Parnaffes einnehmen. Der Befchauer fteigt von der realen
Welt zu einer idealen empor.
Das Halbrundbild hat Raffael in einer feiner glücklichften Stunden
gefchaffen. Kein fpröder Gedankenftoff war zu überwinden, keine äufseren
Anweifungen erft forgfaltig von der Phantafie zurechtzulegen und inner-
lich umzugeftalten. Die wenigen Embleme, deren er zur Charakteriftik
der einzelnen Geftalten bedurfte, hatte längerer Gebrauch bereits abge-
fchliffen. Seine ganze Kraft und Aufmerkfamkeit konnte daher Raffael
ungehemmt den künftlerifchen Seiten der Darftellung zuwenden, der
Schönheit und Reinheit der malerifchen Formen ausfchliefslich huldigen.
Auf einer Marmorftufe, die in der Mitte noch einen erhöhten Sockel
trägt, haben {ich die drei Tugenden der Stärke, Vorflcht und Mäfsigung
niedergelaffen. Zunächft zur Linken Iitzt die Stärke, das bekränzte Haupt
gegen die mittlere Figur zugekehrt, fo dafs Richtung des Kopfes und
Haltung des Leibes contraftiren, in der Hand einen ausgeriffenen Eichen-
ftamm (Rovere i) haltend, von dem ein geflügelter Knabe die Früchte zu
hafchen fich abmüht, während fein Genoffe auf der anderen Seite von der
Bank, auf der er ruht, {ich erhebt. Die kluge Vorflcht in der Mitte auf
erhöhtem Sockel blickt in den von einem Genius ihr vorgewiefenen
Spiegel; ein zweiter Genius hält hinter ihr die Fackel empor. Sie trägt
einen Januskopf, zeigt vorn die Zügeder Jungfrau, hinten, gefchickt durch
das Kopftuch vermittelt, jene eines alten bärtigen Mannes und hat die Bruft
mit der Gorgomaske gefchmückt. Der Zaum in den weit vor geftreckten
Händen der dritten Geftalt. zu deren Kopf dasfelbe Modell fafs, wie zur
Madonna aus dem Haufe Alba, deutet die Mäfsigung an. Ein turbanartiges
Tuch, mittels einer Binde unter dem Kinn befeftigt, umhüllt das anmuthige
Antlitz, ein leichtes Gewand ift um den Oberkörper gelegt. lhr zur
Seite fitzt ein prächtiger Knabe, mit dem Finger nach oben weifend.
Gegen die Haltung der einzelnen Geltalten mag vielleicht das Eine
und Andere eingewendet werden können. Die Temperantia mag zu gewalt-
fam in der Bewegung, die Prudentia nicht belebt genug imiGe-iichte er-
fcheinen. Immer wird die Schönheit und Kraft der Formen unfere Be-
wunderung erregen. Welclf mächtiges Weib ift die Stärke, welcher
Schwung geht durch die Zeichnung der Gewänder. Sie flnd in grofsen
Maffen angelegt und bei allem Reichthum der Falten doch einfach und
natürlich geworfen. Nichts von einem künftlichen Arrangement und
Stich
VOH
Morghen.