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RAFFAEL
ROM
UNTER
JULIUS
gegebenen und vorgefchriebenen, fobald es der künfileiifche Zweck ver-
langte, umzuprägen.
Die Grundliimmung des Bildes ift alfo nicht RaffaePs ausfchliefsliches
Eigenthum, fo dafs etwa fein perfönliches Emptinden allein zur Erklärung
herangezogen werden müfste. Die Ideale eines ganzen Jahrhunderts
begrüfsen wir vielmehr in dem Gemälde; die Richtung des Geiftes, welcher
die feinfmnigften, vornehmften und angefehenften Italiener der Renaiffance-
Zeit huldigten, fpricht aus demfelben. Da die Ziele und Ideale der Huma-
niften am deutlichften in ihren Schriften niedergelegt find, fo durften
wir uns bei den letzteren Rath holen. Infofern kann man von literarifchen
Quellen, aus welchen Raffaefs Compofition gefchöpft ilt, reden. War
aber Raffael nicht auch in Bezug auf Einzelheiten der Anordnung, Gruppi-
rung und Schilderung von literarifchen Traditionen abhängig, befafs er
etwa Hilfsmittel anfchaulicher Natur, um darnach die Züge, den Charakter
der einzelnen Perfönlichkeiten feftzuftellen? Diefe Frage ift oft aufgeworfen,
vielfach fogar mit grofsem Aufwand von Gelehrfamkeit erörtert worden.
Dafs fie aufgeworfen wurde, erfcheint begreiflich genug. Aelteren Kunfi-
werken, deren Inhalt nicht unferem unmittelbaren Leben und Empfinden
entlehnt ift, treten wir natürlich mit einer gewiffen Neugierde entgegen
und wünfchen zuerft, was und wer in denfelben dargefiellt wird, zu
erfahren. Nicht felten wird ja befriedigte Neugierde mit eigentlichem
Kunftgentlffe verwechfelt. Nur darf man nicht glauben, die Frage bejahend
löfen zu können; nicht allein weil uns die hiftorifchen Handhaben dafür
mangeln, fondern auch und vornehmlich, weil die künitlerifche Phantafle
f1ch ja nicht ftrenge an folche äufsere Fingerzeige halten konnte. Gar
manche Philofophen erfreuten flch zu RaffaeFs Zeiten einer fo grofsen
Beliebtheit und- Volksthümlichkeit, dafs iie jedermann auch in dem Bilde
zu fchauen erwartete und Raffael gewifs auch auf demfelben anbrachte.
Er forgte aber für ihre unmittelbare Erkennung. S0 legte er Platon
den Timäus in die Hand, das Buch, von welchem fchon ein Schriftfteller
des zwölften Iahrhundertsif) fagte, dafs es von Platon eben fo unzer-
trennlich fei, wie der Pfalter von David, und liefs Arifcoteles die am
meiften gelefene Schrift, die Ethica, halten. So gab er Sokrates die
Stumpfnafe, zeichnete den Cyniker Diogenes halbnackt mit der hölzernen
Schale zur Seite; er verlieh dem Ptolomäus, mit leichtverzeihlichem
Irrthum an den Aegypterkönig denkend, eine Krone und Ptellte in die
unmittelbare Nähe des Pythagoras, des Erfinders der Harmonie, eine
Tafel, auf welcher die Theile des Accordes gefchrieben fiehen. Für
Honorius
Autod.
Expofltio
cant.
canticoruln
Mignß)
348.