DER
GEDANKENKREIS
SCHULE
VON
AT HEN.
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Stufen mufste von dem Philofophirenden überfchritten werden, ehe er
Würdig und fähig erfchien, die Lehren der höchPcen Weisheit anzuhören.
Zunachil galt es, die Wiffenfchaft der Arithmetik zu erproben. Gott
felbPc hat den Menfchen die Zahlen gefchenkt, als das nothwendige Mittel,
die Ordnung und Gliederung der Dinge zu erkennen. Ihr folgen die
Geometrie, welche die Maafse erkennt, die Aftronomie, welche
die Himmelskörper betrachtet, und die Mufik, durch die Nachahmung
llimmlifcher Harmonieen entftanden. Näher an die Philofophie rücken
die Phyfik heran, welche die Gattungen, Zufammenfetzungen der Körper
Prüft, die Gefetze der Bewegung und Entwickelung der Thiere befchreibt
und die Heilkräfte der Natur ergründet, fowie die Dialektik und
Metaphyfik. Den Gipfel aber bildet die mit der Platonifchen Philo-
fOphie zufammenfallende Theologie, die Königin aller Wiffenfchaften,
die überall nur Gott findet und Gott anbetet.
Diefer Gedankenkreis, in den Schriften und Briefen der Humaniften
dCS Quattrocento von Poggio und Gemisthus Plethon bis auf Marfilio
Ficino und Sadolet immer und immer Wiederkehrend und geradezu typifch
allSgeprägt, bildete die Grundlage der Raffaeffchen Schule von Athen.
Zwei Aufgaben wurden zunächfit durch denfelben dem Künftler geftellt.
Er follte die Helden des Geiftes fchildern, welche nach dem Glauben
der Zeit den NVeg zur Wahrheit den lVlenfchen gewiefen und die rechte
Weisheit, die zu Gott führt, gelehrt haben. Dann aber war auch der
ßascensusr, die Stufenreihe, welche von den vorbereitenden Wiffenfchaften
bis zum Gipfel der Philofophie erklommen werden mufste, anfchaulich
Zu gePcalten. In diefen vorbereitenden Disciplinen begrüfsen wir das
trivium und quadrivium des Mittelalters, die uns vvohlbekannten fieben
freien Künfte. Sie Waren fchon in früheren Jahrhunderten ein geläufiger
Gegenftand bildlicher Darftellung, fie haben auch jetzt noch nicht ihre
Anziehungskraft verloren. Nur werden ihre Vertreter ausfchliefslich
unter den Weltweifen des Alterthums gefunden, mit ihrer Schilderung
die Verherrlichung der berühmteften griechifchen Philofophen veriiochten:
Die Löfung diefer beiden Aufgaben hätte aber noch immer kein vollendetes
Kunftwerk gefchaffen. Zu ihnen tritt eing dritte, eine künftlerifche Auf-
gabe hinzu: Leben und Handlung in die Scene zu bringen, Seele den
einzelnen Geftalten einzuhauchen, durch charakteriftifchen Ausdruck die
paffiven Träger abfirakter Vorftellungen oder zufällige Portraite zu wirk-
lichen Männern der That zu erhöhen. Und diefe letzte Aufgabe wurde
fogar die erfte und oberfie. Sie verlieh Raffael das Recht, ja band ihm
die Pflicht ein, den überlieferten bis dahin todten Stoff noch einmal
in der Phantafie zu erzeugen, durch neue Geftalten zu ergänzen, die