DIE
SCHULE
VON
ATHEN.
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Kenntniffe, um zu dem vollen Verftändnifs des Vorganges zu gelangen.
Raffael lag es fern, das antike Leben illuftriren zu wollen. Als er den
Padinrafs fchuf, Hand er noch unter dem Banne der älteren Renaiffance-
cultur, welche fich die Antike nicht als eine abgefchloffene NVelt denken
konnte, die es wohl verdient, um ihrer felbft willen ergründet und
gepriefen zu werden, aber von der lebendigen Gegenwart gänzlich
getrennt ift, vielmehr an ihr unmittelbares Nachleben im italienifchen
Volke glaubte. Als Hilfsmittel diente ihm wohl die Antike, um die
Gewänder fchön zu oiirdnen und in zierliche Falten zu legen oder um
die richtigen Attribute der einzelnen Geftalten zu treffen. Aber wie
Raffael fchön die Köpfe felbftändig fchuf, fo gab er vollends dem ganzen
Bilde eine folche Stimmung, dafs die Zeitgenoffen in ihm den Spiegel
ihrer eigenen Empfindungen erkannten und in den Helden des Parnaffes
nur lebendige wenn auch verklärte Perfönlichkeiten, die in ihr Dafein
unmittelbar hineinragen, begrüßten.
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Auch das große Wandgemälde gegenüber der Disputa, unter dem
Namen: Schule von Athen?) weltberühmt, wird durch den NVieder-
fchein humaniftifcher Anfchauungen erhellt; doch verleiht diefer dem Bilde
wenigftens für die Augen fpäterer Gefchlechter nicht jene durchfichtige
Klarheit, die in der Schilderung des Parnaffes entzückt. Nicht durch
die Schuld des Künftlers. Alle Eigenfchaften, die wir an ihm bisher
bewunderten, offenbart auch die Schule von Athen. Sie feiert aber einen
Gedankenkreis, welcher am rafcheften tiefgreifendeln Wandlungen unter-
Worfen ift, und verkörpert die feinften und intimften Ideen der Renaiffance,
die natürlich am ftärkften abblafsten, als die Renaiffancebildung zu Grabe
getragen wurde, was nur zu bald und theilweife mit rauher Gewaltfam-
keit gefchah.
Kein Weltalter erfcheint für uns fo fehr erfüllt von wunderbaren
und überrafchenden Dingen, wie die Renaiffance. Wir flaunen über den
jugendlichen Schwung des Geiftes, welcher der Phantafle die Herrfchaft
über die ganze Welt einräumt, über die feltene Kraft des Auges, welche
das Dunkel eines Jahrtaufends durchdringt und das Alterthum in frifchen,
lebendigen Farben wieder erblickt, über die Unerfchütterlichkeit des
guten Glaubens, eine ganze grofse Welt laffe {ich ohne Kampf und
Streit ändern, eine neue Ordnung der Dinge einführen, ohne dafs die
Stich
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