Volltext: Bis zum Tode Julius II. (Bd. 1)

232 VI. 
RAFFAEL IN ROM UNTER 
JULIUS 
mächtigen Sängers, der won Gott kommt und zu Gott führte meifterhaft 
wiedergegeben. Diefer gewaltigen Geitalt mufste nun auf der anderen 
Seite der Mittelgruppe ein Gegengewicht verliehen werden, wenigftens 
in formeller Beziehung, dafs nicht das Auge, von der Bedeutung Homers 
ohnehin fchon gepackt, hier eine Leere und eine Lücke finde. Dazu 
dient die neunte, vom Rücken aus gefehene Mufe, eine hochragende 
Figur, welche im Gegenfatze zur ihren Genofiinnen in ein faltenreiches 
Kleid gehüllt und in der farbigen Erfcheinung in Uebereinftimmung mit 
der Figur Homers gebracht ift. 
Die Dichtergruppe auf der rechten Seite, welche den Begleitern 
Homers entfprechen foll, tritt gegen die letzteren in den Hintergrund 
zurück. Die Charaktere werden nicht gefondert, die Stimmungen der 
einzelnen nicht individualifirt. Der Ausdruck befeligten Dafeins fpricht 
aus allen vier Geftalten, hinter welchen wahrfcheinlich Portraits von 
Zeitgenoffen verborgen find. Lebhafter und empfindungsreicher hat 
Raffael die beiden Gruppen am Fufse des Hügels gezeichnet. Der 
NViederhall des göttlichen Gefanges hat fie getroffen und bewegt das 
Gemüth der alten und neueren Dichter, die hier unterfchiedslos zufammen- 
Pcehen; leife auf der Seite Sapphds, kräftiger auf der anderen Seite, 
wo ein bärtiger antiker Poet im Vordergrunde fitzt und mit der aus- 
geftreckten Rechten in erregtem Gefpräch dem neben ihm ftehenden 
ftaunenden Genoffenik) {ich zuwendet. Ob die Geberde des dritten Dichters, 
der den Finger an den Mund legt, eine Mahnung zum Schweigen oder 
gefpannte Aufmerkfamkeit bedeutet, mag jeder Befchauer für {ich ent- 
fcheiden. Unter allen diefen Geftalten haben die beiden vorderften 
fitzenden Figuren: Sappho, zu welcher das britifche Mufeum den Ent- 
wurf befitzt, und der fogenannte Pindar ihr gegenüber ftets die gröfste 
Bewunderung hervorgerufen. Sie üben den Eindruck, nicht als ob die 
Freske fich nachträglich den baulichen Bedingungen fügen müffe, fondern 
als ob die Anordnung der Wand zur befferen Gliederung des Gemäldes 
erfolgt fei. Raffael hat den gemalten Fenfterrahmen kunitreich in die 
Compofition hineingezogen und in ihm die befte Stütze für den Arm 
der ruhenden Sappho gefunden. 
 Der Wiederfchein humaniftifcher Ideen, zu Raffaels Zeiten bereits 
ihr Abendfchein, verleiht dem Parnafs eine durchflchtige Klarheit. Keinen 
Augenblick ftehen wir rathend und unficher vor den Bilde, fragend nach 
feinem inhaltlichen Kern und forfchend nach dem Charakter und der 
Stimmung der einzelnen Geftalten. Auch bedarf es keiner antiquarifchen 
m) Federzeichnung für die Füfse der beiden {lebenden Figuren in Lille.
	        
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