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RAFFAEL
ROM
es, als 0b eine ganz neue Welt vor den Augen des Befchauers flCh
aufthäte.
Ein wirkfames Gegenbild zu der feierlichen Sonntagsruhe im Kreife
der Heiligen bietet das reich bewegte Leben der gläubigen Gemeinde
in der unteren Hälfte der Freske. Sturm und Drang haben die Pcreitende
Kirche an den Altar geführt, welcher nicht allein die Hauptgliederung
des Werkes fortfetzt und die verfammelte Menfchenmaffe ebenfo fcharf
inzwei grofse Gruppen fcheidet, wie oben der Halbkreis der Heiligen
durch die göttlichen Perfonen in zwei Hälften getheilt wird, fondern auch
in anfchaulicher Weife die kirchliche Natur der Verfammlung andeutet.
Auf dem Altar prangt eine Monftranz mit der Hoftie, feine Vorderfeite
ift mit einem blauen Tuche bedeckt, in Welches Raffael die fchönfle
goldene Arabeske eingezeichnet hat. Links vom Altar fitzen der Papft
Gregorius und der heilige Hieronymus, mit dem Löwen und dem Cardinals-
hute zu Füfsen, rechts vom Altare thronen in bifchöflichem Ornate die
iheiligen Ambroflus und Auguflinus. Die, vier grofsen Kirchenvater, die
Stützen des Glaubens und die Führer der Gemeinde find als folche durch
ihre Stellung in der unmittelbaren Nähe des Altares charakteriiirt. Es
galt aber noch mehr; es mufste auch ihr Antheil an dem Vorgange
gefchildert werden. Und da trat der Künftler in fein volles Recht.
Raffael fchuf in diefen vier Geftalten eben fo viele pfychologifche Typen,
in welchen ilCh die verfchiedenen Grade und Stufen der religiöfen Er-
kenntnifs kundgeben.
Während Hieronymus, der Bibelüberfetzer, mit tiefftem Ernft in dem
vor ihm aufgefchlagenen Buche lieft und ganz vertieft in die Forfchung
erfcheint, hält Papit Gregor die Schrift nur noch mechanifch in den
Händen und wendet das Antlitz, die Offenbarung ahnend, nach oben.
Von der Offenbarung mächtig ergriffen, die Hände voll Staunen und
Bewunderung emporhebend, zeichnet Raffael auf der anderen Seite des
Altares den heiligen Ambroiiils; zur Ruhe wieder zurückgekehrt, theilt
Auguftinus bereits die ihm gewordene Anfchauung der göttlichen Dinge
dem jugendlichen Schreiber mit, welcher zu feinen Füfsen kniet. Zwei
namenlofe Geftalten, die eine im geiftlichen (grünen, mit Gold geftickten)
Ornate, die andere den gewaltigen Leib in einen weiten blauen Mantel
gehüllt, ftehen dicht am Altare neben Hieronymus und Ambrofius. Sie
veritärken den Eindruck und faffen in kräftiger Geberde die Stimmung
und Empfindung der Kirche näher zufammen. Mit beiden Händen weift
der Priefter auf das geheimnifsvolle Altarfacrament hin, als wollte er
den heiligen Hieronymus zu weiterem Forfchen auffordern, ihm den Gegen-
ftand der richtigfien Erkeinntnifs bezeichnen. Der langbärtige Laie deutet