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RAFFAÄEL
ROM
UNTER
J ULIUS
couliffe, noch von der Frauengeftalt, die vor dem Baue mit ivehendem
Gewande auf NVolken fchwebt und mit der Hand nach oben weift, hat
fich in den fpäteren Entwürfen oder im ausgeführten Bilde auch nur die
leifefie Spur erhalten. Dagegen offenbaren die auf einer Art von Platt-
form geordneten Figuren fchon mannigfache Keime der fpäteren Grup-
pirung. Links im Vordergrunde fitzt, das Haupt aufwärts dem Himmel
zugewendet, ein Mönch. In ihm zeichnete Raffael den begeifierten Seher,
wie in der fitzenden Figur mehr in der Mitte, welche ein Buch in den
Händen hält, den gelehrten in den heiligen Schriften forfchenden Theo-
logen. Diefe letztere Geiialt kehrt (als heiliger Hieronymus) in der Freske
wieder, ebenfo der knieende andächtig laufchende Jüngling und der andere,
welcher vorgebeugten Leibes in das Buch zu blicken trachtet, links zur
Seite des Heiligen. Die Perfonen des Hintergrundes nehmen noch keinen
beftimmten Antheil an der Handlung, find gleichfam nur als Zufchauer
gedacht und wurden bei den fpäteren Entwickelungsfttifen der Compofition
befeitigt. Doch gingen lie nicht ganz verloren. Als Raffael die Schule
von Athen entwarf, erinnerte er {ich der Gruppe ftehender Männer links
im Hintergründe der NVindforzeichnung und ordnete das Gefolge in der
Nähe des Philofophenfürlien in ähnlicher Weife an. Das Studium der
erften Entwürfe zu den grofsen Fresken lehrt uns nicht allein die Pcrenge
Gefetzmäfsigkeit in der Entwickelung der Compofition kennen, fo dafs
wir im Stande find, für jede folgende Aenderung den ausreichenden
Grund anzugeben, es enthüllt uns auch den wunderbaren Reichthum der
Raffaelifchen Phantafie. Ueber welche Fülle von Gefialten mußte er
verfügen, dafs er niemals zu forgen brauchte, es könnte über dem Aendern
und Beffern, dem W eglaffen und Zufügen der Strom der Erfindung ver-
fiegen. In einzelnen Augenblicken mufste ihn der ftürmifche Schöpfungs-
drang geradezu übermannen. Da tauchten immer neue Geftalten in
feiner Phantafle auf, die {ich nicht unmittelbar auf beftimmte Bilder be-
ziehen, gleichfam als der Wiederhall der Stimmung, in welche ihn Bilder-
reihen verfetzten, erfcheinen. Das britifche Mufeum bewahrt z. B. ein
Blatt (Br. 90), das in die erften römifchen Jahre fallen mufs, von oben
bis unten mit nackten Geftalten angefüllt, bei aller Haft der Zeichnung voll
Charakter, die nicht als Studien zur Disputa oder zur Schule von Athen
gelten können, aber doch offenbar verwandten Gedankenkreifen angehören. 5')
Wir find nicht mehr im Stande, die Entwickelung der Compofition
3) Die Federzeichnung mit breiten
Strichen fchraffirt, trägt merkwürdiger
Weife ganz das Gepräge der Skizzen
Michelangelos" in feiner Jugendperiode
und müfsteüiliftifch eigentlich diefem
zugefchrieben werden.