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RAFFAEL
ROM
UNTER
JULIUS
haben die einzelnen Perfonen geradezu zweigetheilt. Sie trennen ihre
äufsere Hülle von der Seele. Denn befeelt werden die Geftalten erPt
dadurch, dafs fie fich von einer Idee ergriffen und vollftändig erfüllt offen-
baren. Die alten Bilder zeichnen für fich mit gröfserem oder geringerem
Glücke die portraitartige Erfcheinung der Helden, und wieder für fich,
wenn fie {ich nicht mit oberflächlichen Emblemen begnügen, das Ideal,
welchem die Helden nachftreben, die geiftige Macht, Welche fie vertreten.
Sie malen z. B. die berühmten Gelehrten des Alterthums in fitzender
Stellung, fchreibend oder in Nachdenken verfunken, über ihnen aber
laffen fie die allegorifchen Geftalten der Wiffenfchaften, in deren Dienit
fie ftehen, fchweben. S0 werden Ptolemäus und die Aftronomia, Boethius
und die Mufica, Ariftoteles und die Dialectica rein äufserlich aneinander
gefügt.
Raffael dagegen fetzt die Helden in unmittelbare Action, er läfst
fie handelnd auftreten, durch Geberde, Haltung und Bewegung das lebendig
ausdrücken, was in den älteren Bildern durch die allegorifchen Figuren
dürftig angedeutet wird. Der allegorifche Apparat fällt fort, die Einheit
des Tones, bisher fchwer vermifst, gewinnt volle Geltung. XVir errathen
nicht erft mit Hilfe der allegorifchen Geftalt, dafs der unter ihr fitzende
Mann den Vater der Geometrie bedeute, fondern fehen ihn im Kreife
der Schüler mit der Erklärung einer geometrifchen Figur befchäftigt.
Mitten unter die Dichter und Sänger verfetzt er Apollo und den Mufen-
Chor; in Anbetung des Altargeheimniffes verfunken, von der Macht des
Glaubens hingeriffen, nach der göttlichen NVahrheit eifrig verlangend,
mit dem Zweifel ringend erfcheinen die Helden des chriftlichen Geißes.
Raffaefs Helden f ind in der That wirklich und vollkommen, was fie
bis dahin blos vorftellten; fie rufen nicht den räthfellöfenden, das
Abftracte deutenden und erklärenden Verftand an, fondern wenden fich
unmittelbar
Phantafle.
Seine Weife, grofse Gedankenkreife in dramatifcher Form zu ver-
körpern und fernliegenden abftracten Vorftellungen ein unmittelbares
Leben einzuhauchen, ift feitdem das Vorbild der Künftler geworden, aber
das unerreichte Mutter geblieben, vielleicht das unerreichbare. Denn
fchwerlich wird jemals wieder die allgemeine Bildung einen Künftler fo
kräftig unterfttitzen, auf fein Wirken fo allfeitig vorbereiten, und eine fo
günftige Atmofphäre ihm fchaffen, wie es die Renaiffancecultur Raffael
gegenüber that. Doch dürfen wir nicht glauben, dafs er feine Werke
ohne Arbeit und Mühe fchuf. Auch als bereits der Grundgedanke für
jedes einzelne Gemälde feftftand, zeigte er {ich emfig und unabläffxg
bemüht, die künftlerifche Form und den malerifchen Ausdruck bis zur