DIE
BILDER
DEN
ECKFELIDERN.
ZII
unbedingt der Vorzug. Für die Figur des an den Baum gefeffelten
Marfyas hat Raffael hier das Vorbild antiker Monumenteik) noch ftärker
benutzt als in dem Kupferftiche, im Uebrigen aber den Vorgang ganz
felbftändig aufgefafst. Der jugendliche Gott, im fcharfen Profil flchtbar,
mit der ausgeitreckten Rechten die Strafe gebietend, während die andere
mit der Lyra gefenkt ruht, ift dem Varfyas in allen Dingen fchroff ent-
gegengefetzt: der weiche jugendliche Körper dem grobfehnigen, die
behaglich freie Lage des Sitzens der fchmerzhaften gezwungenen des
Herabhängens, fo dafs kaum die Zehen die Erde berühren, die üppigen
Locken dem kurzen, faft ftruppigen Haar. Und auf die fcharfe Aus-
prägung der Gegenfatze kam es dem Künftler offenbar am meiften an.
Die beiden anderen Perfonen auf dem Bilde, der Hirte in Rückenanficht,
welcher über Apollds Haupte den Lorbeerkranz hält und der zweite
Hirte neben Nlarfyas, der auf Apollo blickt und deffen Befehl zum Vollzug
der Strafe erwartet, fmd von untergeordneter Bedeutung, mag {ich auch
der nackte Torfo des erfteren auf den1 Bilde breit machen. Vielleicht
hat diefes fcheinbare Vordrängen des Nebenfachlichen die geringe NVirkung
des auch derb ausgeführten Werkes mit verfchuldet. Jedenfalls empfängt
das Auge einen ungetrübteren Genufs von dem letzten Eckbilde: dem
ßUrtheile Salomonisr.
Sorgfältig hat Rahfael diefes Gemälde vorbereitet. Noch hatfich
in überaus zarter Silberftiftzeichnung die Skizze der ganzen Compofltion
(Oxford) erhalten, und aufserdem bewahrt die Albertina in NVien (Br. I 38)
die Studie zu einer der beiden Mütter. Diefes letztere Blatt führt uns
in anziehender X-Veife in die geheime Werkftätte des Meiflers. NVir
entdecken nämlich auf demfelben, aufser der Studie zum Urtheil Salomonis,
auch noch den Entwurf zu einem Soldaten in dem vbethlehemitifchen
KiUClCFIIIOYÖCx, einem der vollendetften Kupferftiche Marcantons nach
einer Raffaelifchen Compofltion. Auf der Rückfeite des Blattes aber hatte
Raffael die ßAftronomiee gezeichnet. Wir erfahren daraus, was übrigens
felbftverftändlich ift, dafs die beiden Eckbilder an der Decke, die Aftro-
nomie und das Urtheil Salomonis, beinahe gleichzeitig entftanden. Wir
lernen überdies die enge XVechfelbeziehung, die zwifchen dem Gemälde
und dem Kupferftiche waltet, kennen. Als Raffael an die Conlpofition
des wUrtheilsx fchritt, mufste er alsbald die Aehnlichkeit des Gegenftandes
mit dem Kindermorde empfinden: Der Scherge, Welcher das eine Kind
bereits ergriffen hat und fich bereit hält, dasfelbe zu tödten, kann ebenfo-
a) D ü t fc h k e , Antike Bildwerke
Ufßzien) p. 169 u. 251.
in Oberitalien.
(Bildwerke
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