DIE
BILDER
DEN
ECKFELDERN.
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führt uns nothwendig in den religiöfen Gedankenkreis; die Krönung
Apolls und Beftrafung des Marfyas iPt eine Huldigung, der echten und
wahren Poefle dargebracht; das Urtheil Salomons offenbart ein Mufter
der Gerechtigkeit. Nur bei der Befchreibung des vierten Eckbildes
ftocken wir unwillkürlich. Wir erwarten in Uebereinftimmung mit den
bisher beobachteten Vorgängen ein hiftorifches Ereignifs zu fchauen,
welches die Macht der Philofophie, ihr Weben und Walten eindringlich
lehrt. Raffael hat aber eine folche Scene nicht gefucht oder nicht
gefunden. Er führt uns eine allegorifche Figur vor Augen, welche eher
als Rundbild gepafst hatte und in der That auch in ähnlicher Weife
wie die Rundbilder componirt iPr.
Ueber eine auffallend dünn gemalte Himmelskugel beugt {ich ein
Weib herab. Staunend betrachtet f1e das Sternenmeer, das auf der
Himmelskugel vor ihren Augen flch ausbreitet. Mit dem einen Arm
ftützt f1e fich, um beffer fehen zu können, auf die Kugel, die andere flrCClit
f1e mit entfprechender Geberde in die Höhe. Diefer ßAÜYOHOmiCK
zur Seite ftehen auf Wolken fufsend zwei geflügelte Knaben mit Büchern
in den Händen. Allzufern würde es nicht liegen, zu muthmaafsen, clafs
Raffael eine in den Rundbildern nicht verwerthete Compofition hier
untergebracht hätte, um flch aus der Noth zu reifsen. Jedenfalls fallt
die fogenannte Afironomie vollfländig aus dem Tone heraus, welchen
die anderen Eckbilder anfchlagenßi)
Dreimal hat Raffael den Sündenfall, diefen Lieblingsgegenftand
der neueren Kunft, verkörpert. Wie die Sünde durch das Nafchen vom
Baum der Erkenntnifs in die Welt kam, fo kam durch die Schilderung des
Sündenfalls das profane Element, die Freude am Nackten in die Kunit. Die
Kirche mochte immerhin gegen die Darltellung des Nackten, Sinnereizenden
eifern. In diefem Falle mufste f1e es dulden, ja bei der Wichtigkeit der
Lehre vom Sündenfall für die Gläubigen fogar einen ausgezeichneten Platz
in dem geheiligten Bilderkreife ihm zugeftehen. Die Figuren Adam's
und Evas werden fchon im Mittelalter eine fruchtbare Schule, den Formen-
fxnn zu üben, den fchönen Bau des menfchlichen Leibes zu erkennen.
Wer die Statuen unfrer Stammeltern an gothifchen Domportalen, wo f1e
am häufigften wiederkehren, aufmerkfamen Auges betrachtet, wird bald
zu der Ueberzeugung kommen, dafs f1e mit befonderer Liebe von den
wackeren Steinmetzen des Mittelalters gemeifselt wurden und nicht felten
einen gröfseren Fortfchritt in der Kunfl: bekunden, als die benachbarten
Bildwerke. Es verdient bemerkt zu werden, dafs die beiden Denkmale,
Federzeichnung für die Hauptügur
Springer, Raffael und Michelangelo. I.
in
der
Albertina.
(Paff.
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