206 VI. RAFFAEL IN ROM UNTER ]ULIUS
in fchwarzer Kreide; von der Hauptfigur felbft hat {ich keine fichere
Studie oder Skizze erhalten. Man glaubte zwar einen Augenblick lang
in einer Federzeichnung in Oxford, von Paffavant ganz allgemein als
„{itzende weibliche Figur", von anderen als Caffandra oder Mufe bezeich-
net, den Entwurf Raffaefs zur Theologie zu befitzen. Sie zeigt in der
Haltung des Körpers (nur flnd die Beine hier gekreuzt) und Kopfes, in
dem Aufputz des letzteren eine grofse Aehnlichkeit mit der Deckenfigur
in der Stanza della Segnatura. Und nimmt man auf eine Original-
correctur des rechten Armes Rücklicht, fo fcheinen auch beide {Arme
in ziemlich gleicher Lage wie auf der Freske. Zuerft gab nämlich der
Zeichner dem rechten Arm eine ausgefireckte, halberhobene Lage. Nach-
träglich veränderte er diefelbe, liefs den Arm auf dem Schenkel aufruhen
und die Hand ein Buch halten. S0 näherte fich diefe ganz flüchtig
f kizzirte Geftalt der wTheologiexc Nachdem aber auf der Rückfeite des
Oxforder Blattes im kleinen Maafsftabe eine Himmelfahrt lVIariae entdeckt
und hier diefelbe Figur nur mit leichten Veränderungen der Armftellung
als Maria erkannt wurde, mufs die unmittelbare Beziehung der Oxforder
Federzeichnung zur vaticanifchen Freske aufgegeben werden.
Nicht der geringfte Zweifel herrfcht dagegen über das Verhältnifs
einer Kreidezeichnung in Windfor (in Paffavanfs Katalog N0. 430) zu
der allegorifchen Figur der Poefie. Das Blatt und das Bild gehören
zufammen, aber doch nur wie Keim und Blüthe zufammengehören, indem
fle {ich aus einander entwickeln. In der Skizze befitzt der Kopf noch
nicht den individuellen Ausdruck, das Auge noch nicht den Glanz und
die Tiefe. Den Oberkörper hat Raffael zuerft nackt gezeichnet. Das
gab ihm wohl die Gelegenheit, einen prächtigen lebensvollen Torfo zu
entwerfen, er pafste aber nicht zu dem wuchtigen Mantel, der über die
Beine gelegt war. Mit Recht bekleidete er daher in der Freske auch
den Oberkörper mit einem leichten baufchigen Gewande, das nur die
Arme bis über den Ellbogen nackt läfst. Auf dem Entwurf erfcheint
ferner die Kreuzung der Beine zu {tark betont, das Obergewand nicht
frei genug entworfen, in den Falten das Eckige und Scharfbrüchige nicht
ganz vermieden. Wie ungleich mächtiger wirkt das ausgeführte Bild.
Ein Lorbeerkranz umfchliefst, einem Heiligenfchein nicht unähnlich, das
Haupt, die Lyra ruht im rechten Arm, ein Buch wird vom linken fePc
an den Leib gehalten, gewaltige Flügel heben flch von den Schultern
ab. Sie ftören nicht. An {ich lag es fchon nahe, die Infchrift: NVMINE
AFFLATVR, welche die zwei Knaben ihr zur Seite halten, durch ein
Symbol anfchaulich zu machen; dann aber drängt offenbar die innere
Bewegtheit, die raufchende Empfindung, welche der Geftalt ihrer ganzen