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RAFFAEL
IN
ROM
UNTER
IULIUS
Die? Deckenbilder und die Wandgemälde hängen untrennbar zu-
{ammen. Jene {ind gleichfam die Ueberfchriften der letzteren. Sie deuten
die Richtung an und befchreiben den Kreis, in welchem {ich die reichen
Gruppen unten bewegen. faffen kernhaft in einer allegorifchen Ge-
{talt izufammen, was an den Wänden mit breiten hiftorifchen Zügen
gefchildert wird. Die lnfchriften, welche den allegorifchen GePcalten in
den vier grofsen Runden der Wölbung von des Künftlers Hand bei-
gegeben lind, belehren uns über ihren Sinn vollftändig. Von der einen
F_i_gur wird gefagt, dafs {ie die Kunde göttlicher Dinge bedeute, ivon der
andern, dafs {ie nach der Erkenntnifs der Urfachen trachte, die dritte
zeigt {ich vom göttlichen Geifte angeweht und begeiftert, die letzte
endlich verüchert, dafs llC jedem {ein Recht fpende. Wir {ind gewohnt,
diefe vier Figuren mit dem populären Namen der vier Facultäten zu
bezeichnen und als die Sinnbilder der Theologie, Philofophie, Poefle und
Jurisprudenz zu begrüfsen. An die Facultäten dachte nun wohl Raffael
nicht, und infofern erfcheint der gangbare Titel der Bilder nicht ganz
zutreffend. Darin aber irren wir nicht, wenn wir in den Deckengemälden
die geiftigen Mächte verkörpert gewähren, welche unter Glauben und
Wiffen, unfer Empfinden und Wollen lenken, welche das Leben der
Meinfchheit ordnen und dem ganzen Dafein Reiz und Werth verleihen.
Mit gutem Bedachte wurden alle diefe Geftalten ausgewählt; denn
{ie paffen vortrefflich als Schmuck in die Prunkgemächer eines Fürften
der Renaiffancezeit und läiiidigen in anfprechender Weife die Stellung
und die Natur der Bewohner der Räume an. Niemand wird ftaunen,
dafs im Palali eines geiiilichen Fürften kirchliche Gedanken anklingen.
Schilderungen aus {einem Reiche {ind dort gewifs am Platze. Jeder-
mann würde {ich aber wundern, wenn in der Umgebung eines italienifchen
Fürften des Cinquecento die Helden der alten Welt, welche der Gegen-
wart als Ideale vorfchwebten, {ich nicht vorfänden, wenn der Wiederfchein
des Humanismus, der {ich ja auch als politifche Macht geltend gemacht
hatte, nicht an den Wänden glänzte, gerade fo, wie er aus den Reden
und Schriften der Zeitgenoffen, aus ihren Sitten und Empfindungen
Pcrahlt. Auch Alexander VI. Borgia, als er ein Jahrzehnt vorher {eine
Gemächer im Vatican durch Pinturicchio ausmalen liefs, hielt es für an-
gemeffen, mit heiligen Geltalten und biblifchen Schilderungen die Räume
zu fchmücken. Aufser Scenen aus dem Leben ChriPci und der Maria
werden uns auch legendarifche Vorgänge, welche den rettenden Beiftand
Gottes wiederfpiegeln, vor idie Augen gebracht. Die eine Kammer ift
aufserdem den DarPcellungen der {leben freien KünPte, durch allegorifche
Figuren und zahlreiche die verfchiedenen Künfte ausübende Perfonen