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RAFFAEL
IN
ROM
UNTER
JULIUS
'Seite thätig waren. Gewifs darf man nicht an eine Werkftätte denken,
in welcher Tafelbilder auf Beftellung oder auf gut Glück xierfertigt wurden
Aus welchem Grunde hätte dann Raffael bei feinem Weggange von Florenz
mehrere Gemälde unvollendet zurückgelaffen und die Hilfe befreundeter
aber felbftändiger Künftler, wie die Ridolfo Ghirlandajds, angerufen?
Gerade fo, wie Michelangelo im Mai 1508, fobald er die Fresken in der
Sixtina in Angriff nahm, einige rgarzoniß aus Florenz herbeiholte, blickte
auch Raffael, als ihm die Wandgemälde in den vaticanifchen Stanzen über-
tragen wurden, nach dem Beiftande von Malern aus, welchen er unter-
gegrglnete Theile der Arbeit zur Ausführung anvertrauen konnte. Das
fteht alfo durch das Zeugnifs des an Francia gerichteten Briefes feft,
dafs Raffael im Herbft 1508 bereits vollkommen in Rom eingebürgert
und vollauf mit Arbeiten für den Paplt, zunächft mit der Ausmalung der
Stanzen befchäftigt war. Nicht jeder Strich und jede Linie, das darf
man wohl behaupten, war ausfchliefslich dem einen Werke gewidmet.
Schon die natürliche Oeconomie der Kräfte verlangte Wechfel der Arbeit.
Es bilden abe_r die vaticanifchen Stanzen den Markftein in Raffaefs Ent-
wickelung, in ihnen allein offenbart fich der Umfchwung, welchen die
Ueberfiedelung nach Rom herbeiführte, in feiner ganzen Gröfse. Mit
ihrer Schilderung mufs daher die hiftorifche Erzählung beginnen.
Nächlt der Sixtinifchen Kapelle bilden die Stanzen im Vatikan das
Hauptziel aller Rompilger, welche {ich zum Cultus der KunPr bekennen.
Im, zweiten Stockwerke des älteren, von Nicolaus V. erbautennTheiles
des vaticanifchen Palaftes befinden {ich drei gewölbte Zimmer mäßigen
Umfanges, Welche mit dem anftofsenden gröfseren Saale zufammen
gegenwärtig den Namen Stanzen tragen, obfchon diele Bezeichnung in
Wahrheit eigentlich nur den drei kleineren Kammern zukommt. Zu den
Wohnräumen des Papftes gehörig, wenn auch durch ihren reichen KunPc-
fchmuck vom gemeinen Werktagsgebrauche ausgeichloffen, find die
Stanzen oder Kammern niemals in dem gleichen Mafse zugänglich
gewefen, wie Kirchen und Kapellen. Dafs an ein Kunftwerk die ganze
gebildete Welt gleichfam ein natürliches Anrecht befitze, und jenes der
Oeffentlichkeit nicht vorenthalten werden dürfe, von diefem Gefetze
wufste die Renaiffanceperiode nichts. Sie brauchte auch nichts davon
zu wiffen. Denn die Fülle der Kunftfchätze war fo unerfchöpflich, dafs
mit ihrem Verbrauche nicht gekargt zu werden brauchte, diefelben auch
dem privaten Genuffe {ich überaus zahlreich darboten. Ueberdies beftand